Der Umweg nach Santiago
Knoten, das x-te Bild des Dichters, diesmal mit einem Gänsekiel in der Hand, gegen den blauen Himmel erhoben, als wolle er den auch noch vollschreiben, die flanierende Menge in den Säulengalerien der Calle Mayor, das Haus, in dem er gewohnt hat, wenn er dort gewohnt hat, und schließlich die Kirche. 1871 war diese Kirche geschlossen, und das ist sie jetzt auch, aber durch einen Seiteneingang gelangen wir in das Treppenhaus, das zum Chor führt. Zwei Männer sagen uns, daß es verboten ist, aber ich erkläre ihnen, daß wir Cervantes’ Tauf becken suchen. Gegen soviel Unsinn sind sie nicht gewappnet und lassen uns im Halbdunkel allein. Unten ist alles geschlossen, sagen sie, wenn Sie hier bleiben wollen, müssen Sie’s selbst wissen. Es sieht so aus, als sei die Kirche nicht mehr in Gebrauch, doch als meine Augen sich an das schummrige Dunkel gewöhnt haben, sehe ich sie auf einmal doch, die marmorne, ein wenig Licht spendende Form des Tauf beckens, und mit dem albernen Gefühl von mission completed gehen wir wieder hinaus in das grelle Licht des spanischen Mittags.
1988
S EGOVIA
Das Foto erscheint am 5. März in El País . Links, den Kopf von mir und allen Spaniern abgewandt, sitzt el Jefe del Estado Mayor del Aire , Emílio García Conde. Er ist der Stabschef der Luftwaffe, aber warum klingt das im Spanischen wieder so, als sei er der Herr der Lüfte? Er trägt große Wildlederschuhe. Zu seiner Linken, zurückgelehnt, niedrig, der Verteidigungsminister. Die weit ausladende Armlehne seines Sessels berührt die des Jefe del Estado Mayor de la Armada , des Stabschefs der Marine. Der Minister hat einen Bart und ist dick, der Admiral ist mager und trägt Uniform. Er ist der einzige. Als nächster kommt Felipe González, jung, lachlustig, el Presidente del Gobierno , und neben ihm, nach unten blickend, leicht zynisch, rauchend, jemand mit dem Gesicht meines Vaters auf dessen letztem Foto, 1944. Er ist der Jefe de la JUJEM , der Vorsitzende der Junta der Stabschefs. Säulen und Vasen im Hintergrund, ein Glastisch mit Kupferknöpfen. Aschenbecher, Gläser, ein Blumenstrauß. Es ist nichts Besonderes los. Der gewählte Ministerpräsident mit der obersten militärischen Führung. Aber ich kann nicht umhin, dieses Foto vor dem Hintergrund der Ängste und Prognosen von vor einem Jahr zu betrachten, als diese Aufnahme erst noch wahr werden mußte. González mußte die Wahlen gewinnen, die Militärs durften nicht putschen, dann erst war es wahr.
Vor dem Hintergrund welcher Vergangenheit betrachte ich dieses Foto? Ist es nur die Vergangenheit von vor einem Jahr, als ich durch Spanien reiste und im Parador von Segovia abgestiegen war? Dieser Parador, ein paar Kilometer außerhalb der Stadt, ist so angelegt, daß alle Zimmer Aussicht auf die Silhouette der Stadt bieten, die auf der anderen Seite eines Tales hoch oben auf einem Hügel liegt, den wir Niederländer als Berg bezeichnen würden. Sie ist merkwürdig gezackt, diese Silhouette, und sie ändert sich mit der Tageszeit, es kommt einem vor, als könne da keine wirkliche Stadt liegen oder als sei sie das Werk eines Bildhauers, eine Phantasie in Stein, massiv, geschlossen, etwas, in das keine Menschen hineinpassen, zugemauert. Die Türme und die Kuppel der Kathedrale, die hohen Mauern und Zinnen des Alcázar. Dort unten steht, ich weiß es, auch wenn es unsichtbar ist, das von den Römern gebaute Aquädukt. Auf dem Foto, das ich davon habe, sind ein paar Autos zu sehen. Sie sind nicht höher als drei der gigantischen Steinquader, aus denen das Aquädukt errichtet wurde. Regungslos ragt es da auf, rank und hoch, dahinter schimmern die Häuser der Stadt, als sei alles nicht echt, ein Traumbild, das die Geschichte uns vorzaubert, um zu beweisen, daß es sie gibt. Vespasian und Trajan waren Kaiser, als diese 118 Bögen errichtet wurden, 29 Meter hoch, 728 Meter lang. Bis 1974 floß dort das Wasser für die Stadt. Hier wiederholte die Geschichte sich nicht, hier ging sie einfach sehr lange weiter.
Die Kathedrale in Segovia (Photo: Eddy Posthuma de Boer)
Geschichte, das, was geschehen ist. Die Aufzählung von Teilchen, die so klein sind, daß sie nicht mehr gemessen werden können. Nur die großen, groben Fakten bleiben, die an Jahreszahlen festhängen. Oder an Gebäuden, Denkmälern. Vielleichtist das der Grund, weshalb wir uns ihnen so behutsam nähern, den Reiseführer in der Hand, weil sie irgendwie den Beweis dafür erbringen, daß es ein Früher gegeben hat. Aber wie
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