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Der Umweg nach Santiago

Der Umweg nach Santiago

Titel: Der Umweg nach Santiago Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Cees Nooteboom
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daß auch Neapel, Sizilien und Mailand ihm in den Schoß fielen. Ich sag’s ja, die Geschichte ist ein Labyrinth, und niemand hat es angelegt.
    Es ist Oktober, die letzten Tage in Karls Leben sind angebrochen. Die Leichname des heiligen Isidor und des heiligen Diego sind wieder ins Schloß gebracht worden, aber der Hof sah schwarz, denn Oktober galt als verhängnisvoller Monat für spanische Könige. Die Königin fütterte ihn eigenhändig mit Perlenmilch, er erlitt einen Gehörsturz, frisch geschlachtete Tauben wurden ihm auf den Kopf gelegt, um Schwindelanfälle zu bekämpfen, er verlor die Stimme, und seine Ärzte versuchten ihn warm zu halten, indem sie ihm die dampfenden Eingeweide frisch geschlachteter Tiere auf den Magen legten. Es half nicht mehr, er starb. Sein Testament enthielt eine Zeitbombe und die Empfehlung, neben der heiligen Jungfrau Maria auch die heilige Teresa von Ávila zur Schutzpatronin Spaniens zu machen. Der Krieg um die spanische Erbfolge konnte ausbrechen, und der letzte spanische Habsburger verschwand in dem von niemand angelegten Labyrinth der Geschichte.
    Draußen, vor dem Alcázar, in dem sein Urgroßvater Philipp die letzte verhängnisvolle Heirat schloß, steht ein Denkmal. Es hat nichts und natürlich doch wieder alles mit Karls Geschichte zu tun – es erinnert an einen anderen, späteren Krieg. Die Zeit ist im Niederländischen ein Mann, die Geschichte wie im Deutschen eine Frau. Sie ist aus weißem Marmor und hat Brüste, größer als in welchem atavistischen Playboy auch immer. Sie hält ein großes Buch auf dem Schoß, in dem sie selbst vorkommt, denn es steht Historia darauf. Aus der Höhe blickt sie auf eine bronzene Feldschlacht, die zu ihren riesigen Füßen tobt. Schwerter, Bajonette, die Leiche eines heldenhaft gestorbenen Offiziers hängt schlaff über dem Lauf einer Kanone. A los capitanes de Artillería D. Luis Daoiz y D. Pedro Velarde , 2. Mai 1808, die dankbare spanische Nation.
    Tief unten, weit wie ein Ozean, liegt ungerührt der Schauplatz von Ernten und Katastrophen, Völkerwanderungen und Feldschlachten, Erde, die weder Namen noch Jahreszahlen kennt, Land.
    1983

D IE SCHÖNEN T AGE IN A RANJUEZ
    Ein Fluß und ein zweiter Fluß, Wasser, das in ein anderes strömt, Ufer, Kermeseichen, Wiesen, ein Tal, Schatten, Tau, der Gedanke an Kühle und Schutz, an Früchte, im grellen Licht der Meseta. Die Natur ist die Architektin, bis der erste Stein gesetzt wird, der Ritterorden von Santiago, der die Meseta beherrscht, ein erstes Jagdschloß baut, Grundlage des späteren Palastes.
    Als Ferdinand der Katholische, König von Aragonien, nach der endgültigen Vertreibung der Muslime aus Spanien 1492 die Großmeisterwürde des Ritterordens an sich reißt, gehört auch dieses frühe Schloß dazu, gelegen an dem wundersam paradiesischen Fleck, an dem der Jarama in den Tajo fließt. Der Fleck wird eine Krondomäne, Schauplatz für die Passionen und Intrigen der Habsburger und der Bourbonen, abgerissen und wieder aufgebaut, umgestaltet, bewohnt und nicht bewohnt, immer am selben Wasser, das unbekümmert weiterströmt, weil es sich von der Geschichte der Menschen nun einmal nicht berühren läßt.
    »Herr Tajo«, schrieb der Dichter Luis de Góngora 1591 und beschwört den Fluß, sich zu mäßigen, wenn er ungestüm Philipps II . Gärten bespritzt, wenn »tausend beschneite Schwäne durch Eure kühlen Fluten ziehen und tausend Hirsche Jesu Christi Euer Wasser trinken«.
    Ich sehe das Wasser, wie es durchsichtig und schnell über eine kleine künstliche Barriere beim Palast fließt, ich sehe die Schwäne mit ihren geschminkt anmutenden Gesichtern über dem Schneegefieder, ich sehe die rötlichen Mauern des Palastes, der noch nicht stand, als Góngoras Verse geschrieben wurden, wohl aber, als Schiller jenen Vers schrieb, der mit seinem melancholischen Beiklang dem Namen Aranjuez einen Mehrwert geben sollte, der noch heute Menschen dorthin treibt. »Ach«, sagt der Mönch Domingo zum unglücklichen, dem Untergang geweihten Don Carlos, dem Sohn Philipps, »die schönen Tage in Aranjuez / Sind nun zu Ende. Eure Königliche Hoheit / Verlassen es nicht heiterer. Wir sind / Vergebens hier gewesen.«Dieses »Ach« sagt er nicht, das habe ich hinzugefügt. Unerlaubt, wegen des lapidaren Beginns, der ein großes Drama ankündigt. Unwillkürlich sucht man, wenn man später im Palast steht und zu den hohen Marmortreppen starrt, die königlichen Schemen, doch da fließen die Anachronismen

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