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Der Umweg nach Santiago

Der Umweg nach Santiago

Titel: Der Umweg nach Santiago Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Cees Nooteboom
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angewiesen waren, bei der Ernte, dann erntete er ein Drittel für sich selbst, und das letzte Drittel war für den Kaiserlichen Inka bestimmt, der sein Reich mit Hilfe einer königlichen Kaste und mit Inspektoren regierte, die ständig alle Teile des Reichs bereisten. Auf ihrem Weg – dem längsten der Geschichte, länger als die römische Heerstraße von Schottland nach Jerusalem – gab es alle zwei Kilometer Posten für die allgegenwärtigen chasquis , Boten. So konnten in fünf Tagen zweitausend Kilometer zurückgelegt werden.
    In diesem Reich planmäßiger Landwirtschaft, legendärer Monumente, unvorstellbarer Goldschätze und einer eisernen Organisation erscheint nun Pizarro aus Trujillo mit hundertdreißig Soldaten, vierzig Mann Kavallerie und zwei kleinen Kanonen. Und wieder kommt es zu einem jener Ereignisse, die der Geschichte den Anschein von Torheit geben, eine Laune, ein gewaltiges Mißverständnis mit nie wieder rückgängig zu machenden Folgen. Aber die Torheit und das Schicksal lassen sich, heute eher als damals, nachträglich ergründen: zwei Kulturen, die die Zeichen der jeweils anderen nicht verstanden, woraufhin die eine einfach aufhörte zu existieren, vom Erdboden gefegt wurde.
    Der letzte Inka, Atahualpa, hält sich im heutigen Cajamarca auf und unterzieht sich einer Kur heißer Schwefelbäder. Er hat seinen Rivalen und Bruder Huáscar besiegt, ist Gott in seinem Reich, sein Speichel darf die Erde nicht berühren, sondern wird in den Händen von Jungfrauen aufgefangen, sein Gewand aus Vikunjahaar trägt er nie zweimal. Er bereitet sich auf einen triumphalen Einzug in die Hauptstadt Cuzco vor. Pizarro nimmt Cajamarca ein, während der Inka abwesend ist, und schickt einen Boten mit einer Einladung an Atahualpa. Dieser erscheint mit sechstausend Mann, und binnen dreiunddreißig Minuten ist das Ende für ein jahrhundertealtes Reich gekommen. In seinem goldenen Tragsessel nähert sich der göttliche Inka dem Hauptplatz der Stadt, die Füße des »Sohns der Sonne« dürfen die Erde nicht berühren. Diener fegen die Straße. Doch Pizarro hat sein Fußvolk in den umliegenden Gebäuden postiert und reitet selbst hoch zu Roß, einem Tier, das die Inka nicht kannten, dem Herrscher entgegen. Der Dominikanermönch Valverde hält Atahualpa eine Bibel vor; dieser weiß nicht, was das ist, und läßt das heilige Buch zu Boden fallen. Dies wird das Zeichen zum Angriff. Donnern aus den beiden kleinen Kanonen, Panik bei den Indianern, Gemetzel, zweitausend unbewaffnete Inka fallen, Atahualpa wird gefangengenommen. Doch nur für uns wurde er von noch nicht einmal zweihundert Spaniern und vierzig Pferden besiegt. Er selbst wurde von Tieren mit silbernen Füßen besiegt, Tieren, die gleichzeitig Menschen waren, Zentauren also. Oder von einer Legende von zurückgekehrten weißen Göttern – jedenfalls wurde er nicht von einer Macht besiegt, sondern von einer Deutung, und als die Inka das begriffen, war es zu spät.
    Das Inka-Reich war ein Koloß auf tönernen Füßen, aber es war auch ein Koloß mit einem goldenen Haupt. Als dieses fiel, wurde der Körper Eigentum jeder Maske, die Pizarro ihm aufdrücken mochte. Der gefangene Atahualpa bot für seine Freiheit ein Lösegeld in Gold an, soviel, daß der Raum, in dem er sich befand, damit gefüllt werden könne. Pizarro nahm das Angebot an, eswurden Boten ausgesandt, der Goldschatz wurde zusammengetragen, das Blutgold, in das die Spanier sich in der Folgezeit so verrannten.
    Als das Gold da war, begann Pizarro einen Scheinprozeß gegen Atahualpa, der des Götzendienstes und der Vielweiberei beschuldigt wurde. Dieser wurde zum Tod auf dem Scheiterhaufen verurteilt, doch weil er – jetzt endlich mit den Füßen auf dem Erdboden – zum unbegreiflichen Christentum übertrat, fiel das Urteil menschlicher aus. Der letzte der Inka, Herrscher eines Reichs, in dem die Sonne doch unterging, wurde mittels eines von hinten angeschraubten Eisenbands am Würgepfahl getötet, nachdem man ihn zuvor getauft hatte.
    Danach zog Pizarro nach Cuzco, für die Inka der Nabel der Welt, 3400 Meter hoch in den Anden gelegen. Es wurde wie alle anderen prachtvollen Inkastädte und -bauten in Schutt und Asche gelegt, zerstört. Diesen Schlag haben die Indianer Südamerikas nie verwunden; sie verloren ihre Kultur, ihre Sprache so, wie nach den Worten Spenglers »ein Spaziergänger einer Sonnenblume im Vorbeigehen mit einem einzigen Hieb den Kopf abschlägt«. Pizarro wurde ebenfalls ermordet und

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