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Der Umweg nach Santiago

Der Umweg nach Santiago

Titel: Der Umweg nach Santiago Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Cees Nooteboom
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wo ich jetzt stehe, herrscht Bedrücktheit, die Nonnen knien, es wird geseufzt, die Bauersfrauen berühren den Saum des Gewands, Kreuze werden geschlagen, das Kind starrt mit aufgerissenen Augen, und der Priester, dessen bleiches Gesicht sich gerade im Kegel des Scheinwerfers befindet, triumphiert, ballerino assoluto. Wieder gelungen.
    Ich überlege, daß ich so etwas erst einmal gesehen habe, in dem Film Das Lächeln einer Sommernacht von Ingmar Bergman, wo der Schloßherr mit einem Knopfdruck das Bett seiner Mätresse aus dem benachbarten Zimmer in seines schwenken lassen kann, und das auch noch unter Trompetenschall. Ein unehrerbietiger Vergleich, da es sich hier ja um eine ganz andere Gebieterin handelt, aber es kommt noch besser, denn am Tag darauf ging ich wieder hin, um das Wunder noch einmal zu erleben. Diesmal war es nicht der Protestant Bergman, an den ich denken mußte, sondern der antiklerikale, blasphemische spanische Meister meiner schönsten Stunden, Buñuel, wenn ich auch noch nie einen Furz in einem seiner Filme vernommen hatte. Und ein Furz war es, ein langer, die gesamte Skala des Zwölftonsystems durchlaufender, hier aber den Anweisungen eines Komponisten einer früheren Epoche gehorchender Furz, mit andantes und presti , lentes und accelerati , ein Wunder an Ausdauer und Ausdruckskraft. Jetzt war es nicht mehr der alte Mönch vom Tag zuvor, sondern ein neuer, ein der Erde entrückter Zwanziger, der den Kontakt mit nach Fleisch riechenden Erdenbürgern kaum ertrug, der kein Kind hatte, an das er sich wenden konnte, und folglich über unsere Köpfe hinweg sprach, als gehöre seine Sprache von Natur aus dorthin, einen halben Meter über den Hirnen des profanum vulgus , und dieses vulgus , eine Gruppe von Bauern, die allein schon durch die Anziehungskraft der Erde ein Stückchen herabgezogen wurden, krumme, schiefgewachsene Menschen mit breiten mittelalterlichen Gesichtern, wie es sie in hundert Jahren nirgends mehr auf der Welt geben wird, war durchtränkt von Ehr furcht, nahm den auf sie herabfließenden Nektar der Worte in sich auf, und ich wartete auf den Moment des Knopfdrucks und darauf, daß die schwarze Figur sich wieder umdrehen und uns anstarren würde, und als es geschah, geschah es auch, wieder die Seufzer und Kreuze, die Fußfälle und das Berühren des heiligen Saums, und im selben Moment kam aus einer der alten Frauen, die schon fast nicht mehr von dieser Welt waren, dieser Furz als äußerste Schreckreaktion, eine hilflose Antwort des Niederen auf das Höhere, kollernd und gleitend, klagend und dann wiederjauchzend bis in die zwanzig Meter hohe Kuppel über uns in dem camarín , der absolute, nie zuvor so vollendet gehörte und nie wieder so wahrzunehmende totale Furz, bibbernd, an Kraft zulegend, anhaltend, triumphierend, in barockem Jubel endend und dann langsam, als dürfe es noch nicht zu Ende sein, in jene extremste Form von Musik übergehend, die vom Komponisten mit Takten angegebene Stille.
    Alfons X ., der Weise. Standbild in Madrid
    In solchen Augenblicken wird der Unterschied zwischen Kulturen deutlich. In den Augen der Spanier, für die der Tod, und zwar sowohl der eigene als auch der von Tieren und damit auch der von Nahrung mit all seinen Begleiterscheinungen zum täglichen Leben gehört und da meist nur für kurze Zeit Aufsehen erregt, war nichts Besonderes passiert. Ein kurzes Lächeln bei den Bauern, eine kurze Zurechtweisung von seiten der beiden Töchter der Tonkünstlerin, ein Hauch von Nachsicht beim Franziskaner, das war alles. Die beiden einzigen Vertreter weniger bodenständiger Rassen jedoch, der Verfasser dieses Berichts und eine attraktive Engländerin mit rötlichem Haar, hatten das Pech, sich gerade in diesem Moment anzuschauen, und konnten danach nicht mehr aufhören zu lachen. Verweichlichte Kultur, die vor Lachen fast stirbt. Uns am Jaspis, am Marmor, an den goldenen Ornamenten festhaltend, mußten wir das innere sanctum verlassen, denn wer Kot und Tod im täglichen Leben mit Sterbebegleitung, Euphemismen und Geruchsvertreibern leugnet, muß angesichts einer derart irdischen Manifestation wohl kapitulieren. Gut, eine Liebesgeschichte wurde leider Gottes aus diesem gemeinsamen schwachen Moment nicht, wir beherrschen uns und setzen, disqualifiziert, den Rundgang in der Schatzkammer fort, nun wieder in der nichtechten Welt, in der ich es besser aushalten kann als meine Mitpilger, der Welt der Kunst, des doppelten Bodens, der kunstvollen Täuschung.
    Durch

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