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Der Umweg nach Santiago

Der Umweg nach Santiago

Titel: Der Umweg nach Santiago Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Cees Nooteboom
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Reiterstandbild des Eroberers Pizarro, das gezückte Schwert vorgestreckt, um Inkas aufzuspießen, und das wird er solange tun müssen, bis er selbst ermordet wird, denn der Bildhauer hat vergessen, ihm eine Scheide zu geben, in die er das Schwert wieder stecken könnte. Die Turmuhr knarrt, mit der Zeit ist also etwas passiert, doch auf dem Platz tut sich nichts. Ich spaziere an den verfallenen Palästen der früheren Konquistadoren entlang, lande wieder an derselben Stelle, sehe hoch über der Stadt das mittelalterliche Kastell, bringe jedoch den Mut nicht auf, ziehe mich in den Schatten beim Parkwächter zurück, der nicht wacht, sondern schläft, und knacke ein paar geröstete Sonnenblumenkerne. Eine Menge Schalen für einen winzigen Kern, Nahrung für Leute, die kein Geld, aber viel Zeit haben.
    Eine gute Karte legt die Geschichte und damit die Seele einer Stadt bloß wie ein Röntgenbild. Wunden, alte Narben, Flickstellen, Eingriffe – alles zu sehen. Kein großer Ort, Trujillo, er paßt auf eine kleine Karte, 15 000 Einwohner, von der harten Landschaft gleichsam umklammert. Kirchen, Klöster, Adelshäuser, ich kann sie leicht finden, sie sind violett gefärbt, und alles erzählt von dem heute alten, damals neuen Adel, die strategisch angeordneten Klöster umgürten die Stadt wie ein Tierkreis. Übersetzt klingen ihre Namen erst richtig seltsam, das Kloster der Fleischwerdung(Encarnación), der Gnade (la Merced), der Empfängnis (Concepción), die Kirche des Blutes (la Sangre), Maria der Größeren (la Mayor), und dann, weiter weg, der Albacar, der alte Wehrturm des Kastells, und im Westen, beim Triumphtor, der Alcázar, die Festung, der Palast der Bejaranos, das Alcazarojo der Altamiranos, das befestigte Haus, casa fuerte , der Escobar und so weiter, bis ich alle Namen dieser Männer einzeln gelesen habe, die nichts waren, als sie fortzogen, und, als sie aus Peru, Ecuador, Bolivien mit Gold und Silber beladen zurückkehrten, Grafen, Ritter, Herzöge und Marquis wurden und sich Paläste mit ihren frisch erworbenen Adelswappen erbauen ließen. Ihr Gold und Silber sollte in die Klöster und Kathedralen sowie die gescheiterten Kriege ihrer Fürsten fließen, die Neue Welt sollte sich dem Griff der Alten entringen, die Paläste sollten zur Heimstatt von Fledermäusen, Störchen und Nonnen werden, nur die Namen sollten, mitunter sogar noch in Gestalt leibhaftiger Menschen, in den Geschichtsbüchern und Adelsregistern Spaniens sowie in staubigen, heißen Städten in allen Winkeln des anderen, bezwungenen Erdteils fortleben. Es stimmt natürlich immer noch, daß Geschichte nichts anderes ist als eine Interpretation von Fakten und daß es stets auch eine Geschichte gibt, in der ein und dieselben Fakten sich anders ausnehmen. Ein Sieg oder eine Eroberung in dem einen Geschichtsbuch ist eine Niederlage oder eine Unterwerfung im anderen. Doch der Besitz von Fakten und außerdem die Kenntnis des Ausgangs, die zeitliche Distanz zu einem bestimmten Ereignis und das dadurch geringere unmittelbare Interesse eines späteren Betrachters vermögen eine fast göttliche Allmacht zu vermitteln, als könne man durch das Wissen, wie »alles sich ereignet hat«, wie ein überlegenes Wesen über all diesen früheren Ereignissen schweben.
    Wenn man durch das ausgehöhlte Wappenschild von Trujillo spaziert, kommt es einem vor, als läse man die letzte Seite eines spannenden, grausamen Buchs und blättere dann zur ersten Seite zurück, wenn dieselbe Stadt braun und unansehnlich daliegt, diese Paläste noch nicht erbaut sind und die Abenteurer auf derSuche nach Gold und der Welt fortziehen. Im weiteren Verlauf des Buchs werden die Paläste erbaut, die Männer bekommen Titel und Schnörkel vor und hinter ihren Namen, doch in fernen Ländern in Übersee ist eine ganze Kultur in wenigen Jahren ausgerottet, so gründlich, daß die Teile des fast für immer verlorenen Puzzles erst jetzt, Jahrhunderte später, erstmals wieder zum Vorschein kommen.
    Da ist zum Beispiel das Inka-Reich, von einem absoluten Herrscher regiert, aus Dezimalzellen aufgebaut, wobei jede Zelle einer größeren Einheit verantwortlich ist, ein Staat mit Landwirtschaft treibenden Menschen, der kein persönliches Eigentum kannte – im Grunde eine autoritäre sozialistische Gesellschaft, in der jeder entsprechend der Größe seiner Familie Land zum Bestellen bekam. Erst erntete er ein Drittel für die Sonne (den Staat), dann half er Alten, Kranken und anderen, die darauf

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