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Der Umweg nach Santiago

Der Umweg nach Santiago

Titel: Der Umweg nach Santiago Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Cees Nooteboom
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die antesacristía , den Vorraum zur eigentlichen Sakristei, gehen wir an den mißbilligend herabgezogenen Mündern Karls II . und Marie-Louise von Orléans’ vorbei – sie eingeschnürt wie eine Bienenkönigin, er mit dem schulterlangen, weit abstehendenHaar, dem Marschallstab und dem von Käfern abgeschauten schwarzglänzenden Panzer, der seine fatale Schwäche verbergen soll – zur Schatzgräberhöhle, wo die Zurbaráns hängen. Es hat eine Weile gedauert, bis ich Zurbaráns Werke sah , und danach noch eine Weile, bevor ich sie mochte. Zeit zum Betrachten ist hier nicht, im Rahmen der Führung sind diese Gemälde – die übrigens farbiger sind, als sonst bei Zurbarán üblich – einfach ein Teil der Sakristei. Von einem dieser Gemälde kaufe ich beim Ausgang eine Ansichtskarte, öffentlicher Kunstbesitz. Auf den Stufen vor der Kirche, wo sich bereits die nächste Gruppe für die Führung angemeldet hat, sitze ich und betrachte sie. Sie zeigt einen Mönch, Pedro de Cabañuelas, der beim Zelebrieren der Messe plötzlich von Zweifel befallen wird: Und wenn es nun nicht stimmt, daß bei der Wandlung Brot und Wein in den Leib und das Blut Christi ver wandelt werden? Nichts von dem, was auf Erden gedacht wird, bleibt unbemerkt, denn die Strafe folgt auf dem Fuß, die Hostie steigt auf mitsamt Hostienteller und strahlt in einer goldenen Wolkengrotte wie das weiße Licht selbst, dabei das gequälte Gesicht des Priesters, seine karmesinrote Kasel, jedes Muster in dem Orientteppich, auf dem er kniet, und natürlich die weiße Kutte und das braunschwarze Skapulier des ministrierenden Mönchs hinter ihm bis in jede Höhlung, Vertiefung, Fältelung, Wölbung, Falte akzentuierend und aufhellend. »Tace quod vides et inceptum per fice« , schweige über das, was du gesehen hast, und fahre mit der Messe fort, so könnte man es übersetzen – in schmalen goldenen Lettern kommt es geradewegs aus dem Himmel und dringt in den grauen, ungläubigen Schädel ein, der ein für allemal geheilt ist. Auf einem erdachten Platz dahinter, hingeworfen hinter eleganten Säulen und selbst wieder durch drei gleiche Bögen in eine Welt fließend, in der niemand lebt, wandelt noch eine einsame, undeutliche Mönchsgestalt in einem Licht, das nur von einem permanenten, alles umfassenden Blitzschlag verursacht worden sein kann.
    Genug. Ich gleite wieder ins normale Leben zurück, das Leben der niedrigen Häuser und der Geranienbalkons, des Kopfsteinpflasters, des röchelnden, fast versiegten Springbrunnens auf dem Dorfplatz, der Kneipen mit den schwarzgekleideten Männern, der Frau mit den Tomaten, dem Lorbeer, den Zitronen, des Tabakladens mit den Losen, die nie gewinnen werden, der Zeitung von gestern – der ewigen Welt ohne Firlefanz, die die Schätze des Klosterpalasts hinter mir aufgebracht hat. In einem Laden, in dem sich außer einer Theke nichts befindet, kaufe ich eine Tüte churros (warmes, zu einer langen Girlande gedrehtes Gebäck) für sieben Peseten und spaziere dann durch den barrio alto , die Altstadt, bergaufwärts, bis der Ort tief unter mir liegt. Unter einem Olivenbaum setze ich mich auf ein Mäuerchen und lasse es Abend werden. Nebel kommen von rechts auf, und schwere Wolken über die flache braune Ebene, die zwischen dem weiten Rund der Berge liegt. Im Dorf, jetzt so tief unter mir, das Blöken eines Lammes, Gebell eines Hundes, Rufen von Kindern. Graue Wolken ziehen rasch unter einem hohen Feld hellerer Wolken durch, eine Männerstimme ruft hü! hará! einem Esel zu, der ihn auf einem steilen Weg unendlich langsam nach unten bringt, und dann ist, zweitönig, das Angelus zu hören, und ich denke, wie unwiderruflich auch ich zu einer späten Form der Antike gehöre.
    1983

E IN A UGENBLICK IM G EDÄCHTNIS G OTTES
    Es sind fast vierzig Grad, die Landschaft der Estremadura hat sich der Hitze angepaßt, das Autoradio hat sich der Landschaft angepaßt und strahlt eine Messe aus, in der falsch und laut gesungen wird. Es ist drei Uhr nachmittags, als ich Trujillo erreiche, durch verlassene Gassen fahre ich zur Plaza Mayor, wo der letzte Überlebende für zwanzig Pfennig einen Parkzettel unter meinen Scheibenwischer klemmt und sich in den Schatten, auf die Stufen neben der Kirche San Martín, zurückzieht. Das einzige, was sich jetzt noch regt, sind die Störche in und auf den Turmspitzen, sie staksen auf ihren unordentlichen Nestern herum, unbekümmert in ihrer eigenen afrikanischen Hitze. Direkt vor mir steht ein kühnes

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