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Der Umweg nach Santiago

Der Umweg nach Santiago

Titel: Der Umweg nach Santiago Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Cees Nooteboom
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konnte gerade noch die Finger ins eigene Blut tauchen und an der Stelle, wo es geschah, ein Kreuz malen, als blutigen Schlußpunkt hinter seinem eigenen Leben.
    In der Kathedrale von Lima, in Peru, sah ich ihn vor ungefähr fünfzehn Jahren, eine gegerbte Puppe, durch die sich das Gerippe bohrte, der Bart, vor dem sich der Inka so fürchtete, wie teuflisches Roßhaar aus dem knochigen Kinn sprießend, das koloniale Dilemma in einem vergoldeten Sarg zur Schau gestellt.
    Hier, in Trujillo, wirkt es nicht anders, ein Grab, in dem Lebende wohnen, ich höre sie, aber sehe sie nicht, spanische Geräusche hinter dicken, eisenbeschlagenen Holztüren, Klagelieder hinter den Wappenschildern, Gemurmel, das mir folgt, während ich langsam zur Burg hinaufsteige. Dort ist niemand. Die Zinnen, die quadratischen Türme, die Mauer, die noch fast den ganzen Ort umschließt, düster, böse und nutzlos liegt sie da, bewohntvon einem Volk schwarzgrauer Krähen. Unten liegt die Ebene, auf der Ebene die Hitze, und darin die lange, gerade Straße nach Cáceres, auf der ich gleich fahren werde.
    Was tut ein Fremder in Trujillo? Er wandert durch die dunklen Gassen, findet den Weg zurück nach unten, schaut sich die Büsten an, mit denen Francisco Pizarro sich selbst und seine indianische Frau Yupanqui Huaynas an der Außenmauer seines Palastes verewigen ließ, nachdem sie Marquis und Marquise de la Conquista geworden waren. Merkwürdig sieht er aus, der »Marquis von der Eroberung«, ein wenig weinerlich wirkt sein längliches Greco-Gesicht, eingeklemmt zwischen zwei übermäßig verzierten Renaissancesäulen, hohe, runde Wangen, eine nie zuvor gesehene Kopf bedeckung, ein langer Bart, der sich im Stein weiß ausnimmt, so hängt er über dem Adler, der ihn von dem schüchternen Mädchengesicht seiner indianischen Eroberung trennt, endlich daheim.
    Beim Palast der Herzöge von San Carlos sitzt eine Gruppe Mädchen im Lolita-Alter in der dunklen Vorhalle. Eines steht auf, legt den Finger auf die Lippen und zieht an einer großen Glocke, die drinnen im Gang widerhallt. Latschen, die sich wie erregte Seufzer anhören. Eine weißgekleidete Nonne öffnet, die Mädchen rennen davon, die Nonne schießt wie eine weiße Fledermaus an mir vorbei und versucht, eines zu fassen zu kriegen, aber die Mädchen sind zu schnell, und ihr hohes Johlen verschwindet um die Ecke, triumphierend. Die Nonne nimmt jetzt klassische Posen ein, Augen gen Himmel, Arme in die Luft, viel ay! ay! und Seufzer, aber als die Führung vorbei ist, habe ich nichts gesehen. Der Palast, der sich immer noch im Besitz der gleichnamigen Herzöge befindet, hat seine Seele verloren, ist wegrestauriert worden. Nur außen ist er etwas, ein vergittertes Fort, das der Herzog an die Nonnen unter dem Schutz seines Familienwappens vermietet hat, das an zwei Mauern angebracht ist und von dem doppelköpfigen kaiserlichen Adler gehalten wird, der, einen Kopf an jeder Mauer, nach links und nach rechts nach einem Feind ausspäht, der nie mehr anrücken wird.
    So wandere ich einen Nachmittag lang durch die verfallene Schatzkammer, das Räubernest, das seinerseits von dem geheimnisvollen Feind leer geraubt wurde, der Namen ungültig macht, Waffen stumpf, der Fakten beläßt und doch verändert und eine Stadt vergessen in einer vergessenen Provinz liegen läßt, eine verstaubte Erinnerung.
    Noch am gleichen Tag sitze ich, achtundachtzig Kilometer weiter, fünfzehnhundert Jahre früher, im römischen Amphitheater von Mérida. Der Himmel ist rot, das Stück heißt Untergang, aber die Bühne ist leer, und ich sitze allein, so hoch wie früher ein armer römischer Frontsoldat, und starre auf die großen Steinplatten, die die Füße der Schauspieler nicht mehr betreten, höre das fehlende Lachen auf die Witze von Plautus, habe Heimweh nach Rom, und natürlich kommen mir die obligaten Gedanken. Aber es geht nicht mehr, zwei komplette Vergangenheiten an einem Tag sind zuviel. Ich schaue, bête et méchant , zu den Götterstatuen, die keine Köpfe mehr, wohl aber Haltung haben, gehe von der cavea über all diese viel zu hohen Stufen hinunter zur orchestra , lasse dort einen Schrei los, der hallend zu mir zurückkehrt, und verjage damit einen Taubenschwarm, gehe über das proscenium , am aditus maximus vorbei, schaue auf die grauen, so glänzend gedrehten Säulen.
    Es ist fast unmöglich, aber für einen Moment bin ich allein zwischen den 5500 leeren Sitzplätzen, das Auge der Phantasie bevölkert sie mit

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