Der Umweg nach Santiago
mehr das unsrige ist, verdichtet, verstümmelt, zusammengepreßt zu werden zu nicht mehr als einem einzigen Buch, einem Kapitel, einer Seite, einem Satz. Die Unausweichlichkeit dieses Gedankens hat etwas Garstiges. Aber was hättest du denn statt dessen gewollt? Schau lieber auf die Blumen am Straßenrand. Du kennst nicht einmal ihre ewigen Namen, die Wörter, mit denen sie benannt werden, seit hier Stimmen ertönen. Bruder Distel, Schwester Mohnblume, alles wiegt sich im sanften Bergwind.
Lebeña. Santa María del Lebeña
Die Picos de Europa im Westen, im Osten die Sierra de Peña Sagra, so liegt dieser Landstrich zwischen dem alten Kantabrien und Asturien. Namen wie ein Lied. Durchgang. Von hier auswurde das weite, leere Gebiet, die Meseta, zwischen Ebro und Duero zurückerobert, León ist über den Paß San Glorio erreichbar, Kastilien über den Paß Piedras Luengas. Hierher, über die entvölkerten Ebenen von den neuen Herrschern aus Afrika gejagt, flüchteten die Christen aus dem Süden. Erst später erhalten sie ihren Namen: muztarabes, muzarabes , im heutigen Spanisch mozárabes. Anachronismus, die Ereignisse gingen dem Namen voran. Christen, die im Einflußbereich des Islam lebten. Das Eigenschaftswort wird auf eine Liturgie, eine Architektur, auf Musik, auf Stil angewandt. Die Formenwelt des Mittleren Ostens ist im Zuge der Invasion aus Nordafrika nach Spanien gelangt, Hufeisenbögen, Fabeltiere aus Persien, stilisierte Pflanzen, die man im kühlen Norden nie gesehen hat, geometrische, obsessive Formen, spiegelbildliche Wiederholungen, wie Blütenstaub sind sie von fliehenden menschlichen Bienen durch diese Bergpässe getragen, aus Stein gehauen und auf Pergament gezeichnet worden, noch heute zu sehen, bewahrt.
Mir ist, als käme ich aus dem Gefängnis, als nach einer letzten Kurve auf einmal das Dorf vor mir liegt, in einem Tal von großer Stille und einem archaischen Grün, das noch durch den Regen verstärkt wird, der jetzt zu fallen beginnt. Ich fahre zur Kirche. Apfelbäume in Blüte, niemand zu sehen. »Wo der schmale Paß einem Ring bewachsener Berge weicht, sieht man links, auf der anderen Seite des Flusses, die Kirche und dahinter das Dorf. Wenn der Pfarrer nicht da ist, im Dorf nach dem Schlüssel fragen.« Aber der Pfarrer ist nie da in solchen Dörfern, die Art ist ausgestorben. Manchmal kommt er einmal in der Woche oder einmal in zwei Wochen, es gibt hier zu wenig Menschen zu betreuen. Die Tür ist verschlossen. Ich gehe ins Dorf, ein paar Häuser, Gassen aus Kuhmist und weichem Matsch, Treppen aus Stein gehauen. Vor den Türen niedrige schwarze Pantinen, mit drei Füßchen darunter. Es regnet hier oft. Wie in einem Film spüre ich, wie jemand mich ansieht, und bevor sie sich zurückziehen kann, habe ich die weißhaarige kleine Frau hinter dem Türspalt ihres Hauses gesehen. Ich frage, wer den Schlüssel hat,und sie zeigt auf das nächste Haus. Unbewohnt wirkt das Dorf, nirgends ein Laut. Ich steige die rohen Steinstufen zu dem kleinen Haus hinauf und klopfe. Geschlurfe, ein alter Mann. Ich frage, ob er den Schlüssel habe, und er sagt »Ja«, aber ich solle erst reinkommen. Ob ich einen orujo wolle? Ob ich wisse, was ein orujo sei? Ja, das weiß ich, und ich weiß auch, daß kein Weg daran vorbeiführen wird. Eine Bauernversion des marc , des grappa , Schnaps, der aus den Schalen und Kernen von Weintrauben nach dem Keltern gebrannt wird. Traubenhefe sagt mein spanisches Wörterbuch dazu. Bodensatz, Hefe, das, was der Überlieferung zufolge für die Gottlosen übrigbleibt.
Wir gehen hinein. Seine Frau, gebeugt, schwarz gekleidet. Auf einem Büfett das Foto sehr toter Menschen, selbst als sie noch lebten, waren sie bereits tot, es gibt eine Art des Fotografierens, die das kann, den Tod voraussagen. Aus dem Nichts heraus blicken sie auf den seltsamen Fremden in der Wohnstube ihrer doch auch schon so alten Kinder. Der Mann trinkt nichts, vergiftet wird der Fremde. Die Stube ist klein, sehr dunkel. Die Frau wärmt sich die Füße an einem Kohlenbecken, Regen an den Scheiben. Alles geschieht, wie es geschehen muß, wie in der Legende, hier gibt es noch keine anderen Formen. Gestern, im zehnten Jahrhundert, hat er beim Bau dieser mozarabischen Kirche geholfen, heute kommt der tausend Jahre alte Fremde, und der Gastgeber fragt, wo er herkomme. »Aus Holland.« »Der Prinz mit dem Bart«, sagt der Mann zu der Frau, und zu mir: »Ihr Prinz, der mit der Königin verheiratet ist.« Ich sehe ihn an.
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