Der Umweg nach Santiago
»Der so tapfer gegen die Deutschen gekämpft hat.« »Das ist der Mann unserer vorigen Königin. Jetzt haben wir einen anderen Prinzen.« Das wundert ihn nicht. Prinzen folgen aufeinander und bekommen andere Prinzen. »Aber der hat keinen Bart«, sage ich. »Der gegen die Deutschen gekämpft hat, hatte aber einen«, sagt er.
Es wird still in der Stube. Die Uhr benimmt sich wie eine Sanduhr und teilt eine weitere Minute aus.
Sie hätten keinen Prinzen, sie hätten einen König, sagt er.
Der einzige, der seine Hände nicht mit Blut befleckt habe, sagt er. Que no se ha manchado las manos con sangre. Es ist unmöglich, bei dieser Zeile aus einem chanson de geste etwas anderes zu sehen als Hände und Blut. Hier ist ein Satz noch soviel wie die Summe aller seiner Wörter. Er selbst hat im Bürgerkrieg gekämpft. Auf der richtigen Seite. Daher sein mühsamer Gang.
Ich trinke von dem orujo , der wie ein Messer in mich schneidet.
Sein Bruder habe in Rußland gekämpft, in der Blauen Division. Der sei auch verwundet worden. Spanien, Gegensätze. Es wurde in ein und demselben Ton gesagt, es war kein Wertewandel in diesen Sätzen. Er. Sein Bruder. Rußland, die Republik. Verwundet. Wollen Sie noch einen orujo ? Nein danke.
Wir gehen zur Kirche. Ich frage mich, was ich sehen würde, wenn ich dieses Gebäude nicht mit historischen Augen betrachten würde. Eine schöne ländliche kleine Kirche, alt, in einem verlassenen Winkel. Man sieht sie vom Auto aus, fügt sie zu den übrigen Herrlichkeiten und fährt weiter. Das geht jetzt nicht mehr. In meinem Auto liegt hinten ein Band der Reihe Zodiaque, La nuit des temps , eine Ausgabe (Nr. 47) der Abtei Sainte Marie de la Pierre-qui-Vire (Yonne). Die ganze Reihe – schon jetzt mehr als hundert Bände – ist der romanischen Kunst gewidmet, und dies ist der zweite Band, der die präromanische Kunst Spaniens behandelt. Es sind stattliche Bücher, jedes über 400 Seiten stark, voll mit phantastischen Fotos von jemandem, dem sichtlich kein Interieur zu dunkel ist. Die Detektive, die sie verfassen, gehen an keinem Stein, Ornament, Dokument vorbei, man wird gezwungen, mit Augen zu schauen, von deren Existenz man bislang keine Ahnung hatte. Der Band, den ich auf dieser Reise dabei habe, befaßt sich ausschließlich mit der mozarabischen Kunst, die kleinen Kirchen, auf die ich früher in verborgenen Winkeln Spaniens (zum Beispiel in Berlanga de Duero) durch Zufall gestoßen bin, stehen alle darin, komplett mit Grundrissen, Detailzeichnungen, Geschichte. So auch bei dieser Kirche. Der alte Mann hat die Tür aufgeschlossen, und wir gehen hinein, gehen gegen die süßliche, abgestandene Atmosphärean, die uns zurückzustoßen scheint. Dunkel ist es, ich habe Mühe, Details zu erkennen, doch allmählich siegt das Gebäude, die Struktur zeichnet sich selbst im zunehmenden Licht, doch während ich so technisch wie möglich schauen will, weil ich dafür schließlich gekommen bin, merke ich, daß meine Natur mir befiehlt, in erster Linie etwas zu fühlen. Hier kann sich kaum etwas verändert haben, und fast zwangsläufig kommen beim Berühren dieses so materiellen Selben , des Steins, der Formen aus Stein, die tausend Jahre lang völlig autonom und ungestört dort gestanden haben, eher romantische Phantasien in mir auf, und das ist wesentlich einfacher als die akribischen Betrachtungen Buchs über Einflüsse, Höhenunterschiede, Zwickel, Dachstützen, Kragsteine, Gewölbeformen. Ein heiliger Sherlock Holmes ist hier am Werk gewesen, hat gezirkelt und gemessen, ist über den Boden gekrochen, hat asturische Spuren entdeckt, westgotische Hinweise, mozarabische Täter, er hat Anonymi beim vergeblichen Spurenverwischen ertappt, hat mit geraden und krummen Pfeilen auf Skizzen die »orientation des hauteurs croissantes des supports-colonnes« angegeben, aber ich spreche seinen geweihten Polizeifachjargon nicht, und mein Wörterbuch weigert sich, die Bedeutungen preiszugeben. Der alte Mann sieht mich in den Seiten hin und her blättern, vom Foto wieder zum Kapitell blicken, den Grundriß abschreiten, und er sieht auch, wie ich es schließlich aufgebe und mich meiner Bewunderung hingebe, die Trapezoide, den westlichen Anbau, das griechische Kreuz, die Seitenschiffe und Apsiskapellen dem heiligen Detektiv überlasse und einfach auf die mit orientalischen Pflanzenmotiven verzierten Kapitelle starre, die eine namenlose Hand vor tausend Jahren gemeißelt hat, auf die arabischen Bögen, die sich mir
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