Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Umweg

Der Umweg

Titel: Der Umweg Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gerbrand Bakker
Vom Netzwerk:
meistens auf einen Ständer an der Treppe, war schon an den frischen Sachen trotz Waschmittelgeruch etwas Muffiges. Gestern in der Bäckerei hatte sie diesen Geruch nach alter Frau deutlich wahrgenommen, vielleicht weil sie vom Wandern schwitzte. Sie hatte einen Schritt zur Seite gemacht, damit sie sich nicht in der schmalen Spiegelwand hinter einem der Brotregale sah, vor lauter Angst, jemand anderen zu sehen – so wie sie sich vor einiger Zeit im Fenster des Arbeitszimmers in einen Spanner verwandelt hatte.
    Sie kochte Kaffee, schäumte Milch auf, schnitt zwei Scheiben Brot ab und bestrich sie mit gesalzener Butter. Auf die eine Scheibe kam blackcurrant jam , die andere belegte sie mit Käse. Sie setzte sich an den Tisch und zwang sich, alles aufzuessen und auszutrinken. Sie schaute aus dem Fenster, stellte fest, daß der Kletterstrauch vor dem strahlend blauen Himmel schon ziemlich lichtdurchlässig war, strich eine Locke hinters Ohr und überlegte, ob sie nicht zum Friseur gehen sollte. Als sie den Teller und den Kaffeebecher gespült hatte, ging sie nach oben. Auf dem Tisch im Arbeitszimmer lag der Kalender. Sie schlug ihn auf, schaute auf die Daten, fand einen Tag, von dem sie genau wußte, wie lange er zurücklag, zählte von da an weiter und riß dann eine perforierte Ecke ab. Es war Freitag, der 27. November.
    Sie stellte den Wagen auf dem leeren Parkplatz neben der Burg ab und ging ins Städtchen. In der Straße, die auf das alte Stadttor mit der Uhr zulief – noch eine Uhr –, fand sie einen Friseurladen. Zwischen der Arztpraxis und der Apotheke, beim letzten Mal war er ihr nicht aufgefallen. Wäre es nicht der 27. November gewesen und hätte sie hier einfach nur Urlaub gemacht, dann hätte es ihr Vergnügen bereitet, in einer fremden Stadt zum Friseur zu gehen, als wäre es das Normalste der Welt, ein allmonatliches Ritual. Aber jetzt schien ihr das Sonnenlicht, das die große Schaufensterscheibe zurückwarf, zu grell in die Augen, jetzt spürte sie das Brot wie einen Brocken Beton in ihrem Magen, jetzt kam es ihr so vor, als würde sie sich einem Henker mit sanften Händen übergeben, ja, ausliefern. Obwohl sie den Laden noch gar nicht betreten hatte.
    Genau ein Kunde war da, der Hausarzt. Er rauchte, und auf dem Aschenbecher neben dem Spiegel schwelte noch eine zweite Zigarette.
    » Hello, love «, sagte die Friseurin. »Mach’s dir bequem, ich bediene den Herrn gerade noch zu Ende, es dauert nicht mehr lange.«
    »Ah, die Dachsfrau«, sagte der Hausarzt. Was aus dem kobaltblauen Frisierumhang herausschaute, erinnerte an ein frisch geschlüpftes Vögelchen. Er sah sie im Spiegel an.
    »Was?« fragte die Friseurin.
    »Die Dachsfrau. Sie ist von einem Dachs in den Fuß gebissen worden.«
    »Nein! Das ist doch ausgeschlossen.«
    »Hab ich auch gesagt, es war aber so.«
    »Wie bringt man denn das fertig?«
    »Man legt sich mit nackten Füßen auf einen großen Stein.«
    »Im Ernst?«
    »Ja.«
    Die Friseurin unterbrach ihre Arbeit, Kammhand und Schneidehand schwebten einen Moment untätig in der Luft. »Ich sehe eigentlich immer nur tote Dachse. Am Straßenrand.« Sie griff nach der Zigarette auf dem Aschenbecher und machte einen so tiefen Zug, daß ihre Halssehnen hervortraten. Den Rauch, den sie ausstieß, wedelte sie locker aus dem Handgelenk weg.
    »Ich auch. Dumme Viecher; glauben, die Nacht gehört ihnen, und passen nicht auf.«
    »Meinst du?«
    »Ich weiß nicht. Ich wohne hier schon mein Leben lang und hab noch nie einen lebendigen Dachs gesehen. Vielleicht fragst du besser mal die Frau aus Holland.«
    Der Hausarzt und die Friseurin schauten sie jetzt beide im Spiegel an. Der kleine Friseurladen war blau von Rauch. Glücklicherweise hatte sie vor lauter Verblüffung darüber, daß man so über sie sprach, schon eine Zeitschrift vom Tischchen gezogen, in der sie nun blättern konnte. Niemand stellte ihr wirklich eine Frage, also brauchte sie auch nicht zu antworten. Sie versuchte sich auf einen Artikel über das Arrangieren von Kürbissen in Hauseingängen zu konzentrieren, während der Hausarzt ausführlich die Beschwerden seiner Patienten durchging. Es war seltsam, wie er zu der Friseurin sprach: als wäre sie seinesgleichen oder er eine alte Freundin von ihr. Eine Frau, die mit einer anderen Alltagskram bespricht und über gemeinsame Bekannte klatscht. Die Friseurin schnatterte hin und wieder dazwischen. Endlich hatte sie ihn fertig frisiert, zog mit einer ausladenden Geste den Umhang weg und

Weitere Kostenlose Bücher