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Der Umweg

Der Umweg

Titel: Der Umweg Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gerbrand Bakker
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nannte sie dauernd Emily. Oder war es umgekehrt? Hatte sie angefangen, Sätze mit seinem Namen abzuschließen, weil er sie immer wieder mit Emily ansprach? Jedesmal erwartete sie, daß er etwas Wichtiges sagen würde, auch wegen dieses Schielens. Dahinter vermutete sie wohl automatisch mehr als hinter einem normalen Blick.
    »Ich zünde den Kamin in deinem Zimmer an. Anschließend gehe ich ins Bad und dann ins Bett.«
    »Gut«, sagte er.
    »Im Zimmer sind Bücher. Die meisten auf englisch.«
    »Ich hab selbst ein Buch mit. Darf Sam bei mir schlafen?«
    »Von mir aus ja. Ich lege für ihn einen Teppich auf den Boden.«
    Der Hund stand schon im Durchgang zum Wohnzimmer.
    »Ich laß ihn noch kurz raus.«
    »Bis morgen früh.«
    »Gute Nacht«, sagte er. Er zog seine Jacke an und folgte dem Hund. Als er die Haustür hinter sich zugezogen hatte, ließ Sam mehrmals ein scharfes Bellen hören.
    Sie ging hinauf und machte Feuer im Kamin. Schaute sich nach Dingen um, die sie vielleicht noch wegräumen sollte, und holte einen Bettbezug aus ihrem Schlafzimmer. »Ja«, sagte sie zu Dickinsons Porträt, nachdem sie die Chaiselongue hergerichtet hatte. »Ja, damit hättest du nicht gerechnet.« Anschließend ging sie ins Badezimmer und drückte zwei Paracetamol aus einem der Streifen. In wenigen Wochen hatte sie den Inhalt der fünf neuen Schachteln fast weggeschluckt. Ihr Tag begann mit der Einnahme des Schmerzmittels. Sie vermied es, sich im Spiegel anzusehen, was nicht schwierig war, weil er jetzt schnell beschlug, sie ließ die Wanne vollaufen. Bald lag sie im warmen Wasser und dachte an nichts. Sie hörte den Jungen und den Hund die Treppe heraufkommen. Die Tür des Arbeitszimmers wurde zugezogen. Der Hund bellte, hörte aber sofort auf, als der Junge ihn zur Ruhe mahnte. »Nicht noch einmal«, sagte sie leise zu ihren Zehen. »Schon gar nicht unter diesen Umständen, Emilie aus Rotterdam.« Sie rieb mit beiden Händen ihren Bauch, minutenlang, danach strich sie mit einer Hand durch ihr Haar, fast überrascht, weil es so kurz war.
30
    Am nächsten Morgen stand sie ziemlich früh auf. Die Tür des Arbeitszimmers war geschlossen, im Haus war kein Laut zu hören. Sie setzte Kaffee auf, deckte den Tisch, zum ersten Mal mit Tischtuch. Der Nebel hatte sich in der Nacht gelichtet, eine trübe Sonne schien. Der Anblick der anderthalb noch ungekappten Kopferlen machte sie schlagartig müde. Er würde bald gehen, sie mußte es allein machen. Sie setzte sich, legte die Hände neben den leeren Teller. Er kam nicht von oben, er kam von draußen und brachte einen bitteren Laubgeruch ins Haus. Der Hund begrüßte sie ausgelassen. Beim Anblick des Jungen mußte sie wieder an einen Turner denken, nicht an eins von den Muskelpaketen, die an den Ringen gut sind, nein, an einen schlankeren, dessen Stärke das Bodenturnen ist. Er zog seine Jacke aus und hängte sie auf die Rückenlehne seines Stuhls, ihr gegenüber.
    »Guten Morgen«, sagte er.
    »Guten Morgen«, sagte sie.
    »Ich war am Steinkreis. Der ist echt. Dieses Stück hier wird auf jeden Fall Teil der Route.«
    »Gibt es denn auch falsche?«
    »Klar. Auch Bauern haben manchmal nichts zu tun.«
    »Waren noch Dachse da?«
    »Nein. Die sieht man nur nachts. Sam hat auch nichts gerochen.«
    Sie zog die linke Socke aus und streckte das Bein schräg unterm Tisch hindurch auf seine Seite.
    »Was ist das?«
    »Eine Narbe.«
    »Ja, das seh ich. Woher hast du die?« Seine Hand näherte sich dem Fuß, und zum ersten Mal seit dem Biß spürte sie das Eindringen der Zähne in ihr Fleisch. Millimeter vor ihrem Fuß zog er die Hand zurück.
    »Ein Dachs. Am Tag.«
    »Ausgeschlossen.«
    »Willst du behaupten, daß ich lüge?«
    Er schaute sie mit diesem merkwürdigen Silberblick an. Gestern abend hatte er schlimmer geschielt. Lag wahrscheinlich am Wein. »Nein«, sagte er.
    Ihr Oberschenkel begann zu zittern, sie stellte den Fuß auf den Boden und zog die Socke wieder an. Dann goß sie Kaffee ein. »Gut geschlafen?«
    »Ja. Beim Rauschen des Bachs.« Er begann zu essen. Der Hund saß neben seinem Stuhl und schaute ihm ununterbrochen ins Gesicht, er hielt den Kopf ein wenig schief. »Du bekommst sofort was, Sam.«
    Sie schmierte sich ein Butterbrot und betrachtete es. Schluckte. »Gehst du gleich wieder los?«
    »Ja.«
    Einfach Kaffee trinken, das konnte man immer. Schweigend aß der Junge, der Hund starrte ihm jeden Bissen aus dem Mund. Bradwens Blick wanderte abwechselnd von seinem Teller zum Fenster

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