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Der Umweg

Der Umweg

Titel: Der Umweg Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gerbrand Bakker
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morgen zur Gänseweide und zurück kam ihr jetzt vor wie ein Marathonlauf, so fühlte sie sich. Während sie den Milchtopf ins Spülwasser sinken ließ, starrte sie aus dem Fenster. Das Arbeitszimmer. Sie war noch nicht im Arbeitszimmer gewesen. Eilig trocknete sie sich die Hände ab und ging die Treppe hinauf. An seiner Decke konnte sie sehen, wie er aufgestanden war: Er hatte sie mit Schwung zurückgeworfen und später nicht geradegezogen. Ich muß mich kurz ausruhen, dachte sie. Ich bin müde. Sie zog sich aus und legte sich auf die Chaiselongue. Es war kühl im Arbeitszimmer, das Kaminfeuer war längst ausgegangen. Der Bezug scheuerte über ihre Brustwarzen. Das Süßliche und das Bittere, das sie an ihm gerochen hatte, kamen am oberen Rand des Stoffs zusammen. Sie zog sich die Decke über den Kopf und strich mit den Händen über ihren Bauch.
    Später, als sie sich angezogen und im Kamin Feuer gemacht hatte, suchte sie im Zimmer nach Spuren. Hatte sich der kleine Bücherstapel auf dem Couchtisch irgendwie verändert, hatte er vielleicht etwas auf die leeren Blätter geschrieben, die neben dem offenen Gedichtband auf dem Tisch lagen? Sie wußte nicht mehr, ob sie selbst zuletzt diese Seiten aufgeschlagen hatte. A COUNTRY BURIAL . Wenn, dachte sie, wenn er genau hier aufgehört hat zu blättern und zu lesen, dann …
    Sie setzte sich, starrte aus dem Fenster, wußte nicht, was nach dem »dann« kommen sollte. Das Meer war wieder einmal zu sehen, über den Wipfeln der jetzt kahlen Bäume. Aber weit, sehr weit entfernt. Eine Erinnerung, auch undeutlich und entfernt, ließ sie aufstehen und einen bisher ungeöffneten Bücherkarton durchsuchen. Sie hätte schwören können, daß Habeggers Biographie in ihrem Büro in Amsterdam stand, aber das Buch war im Karton. Noch einmal setzte sie sich an den Schreibtisch, schlug es auf und blätterte es rasch mit dem Daumen durch. Auf Seite 249 – hier blieb der Band wie von selbst offen – war etwas dick rot unterstrichen: since nothing is as real as »thought and passion«, our essential human truth is expressed by our fantasies, not our acts . Es ging um ein Buch, das Dickinson mit einundzwanzig gelesen hatte und das angeblich von entscheidender Bedeutung für ihr Leben gewesen war, wie dieser Hustenanfall eines Großonkels zweiten Grades und allerlei andere Bagatellen. Ein halber Satz in einer viel zu dicken Biographie voller Spekulationen und läppischer Thesen. Dieser Habegger war ein altes Waschweib, trotzdem schrieb sie, bevor sie sein Buch zuklappte, diesen Satz unten auf die beiden Seiten des Gedichtbands, die aufgeschlagen waren, ein wenig ängstlich, mit einem leeren Gefühl im Bauch. Nicht nur diese Leere empfand sie, auch Schmerzen, die heute höher als sonst zu sitzen schienen, im Hals, im Hinterkopf. Sie ging ins Badezimmer und schluckte zwei Paracetamol. Sie mußte dringend zum Arzt, viel länger hielt sie es so nicht mehr aus. Sie fragte sich, ob sie es würde tun können. Bis gestern war sie sich fast sicher gewesen.
32
    Am Nachmittag bohrte sie Bambusstöcke in den Rasen. Im Schweinestall hatte sie eine stabile Latte von zwei Metern Länge gefunden, die sie wie einen Zollstock auslegte: dreimal in Längsrichtung und einmal in der Breite. Zwischen den Stöcken spannte sie wieder Bindfaden, so daß ein Rechteck entstand. Langsam begann sie das Gras abzustechen, dachte noch nicht ans Abtragen der Soden, rechnete aus, daß ihr Rechteck zwölf Quadratmeter groß war. Ab und zu richtete sie sich auf, hob das Gesicht zur Sonne. Plötzlich steckte ein Hund seinen Kopf zwischen ihren Beinen hindurch.
    »Er hat’s ohne dich nicht ausgehalten.«
    Sie drehte sich um. Der Junge stand neben dem Schweinestall, eine Schulter an der Wand. Der Hund fand es offensichtlich schon wieder ganz normal, hier zu sein, er stöberte beim Öltank herum, verschwand hinterm Haus.
    »Und kaum hat er dich gesehen, läuft er wieder weg.« Er rührte sich nicht von der Stelle. »Aber ich nicht.«
    »Was ist passiert?«
    »Nichts. Ich hab’s nicht geschafft, einen Schlafplatz zu finden. Hier ist alles zu in dieser Jahreszeit.«
    »Bist du den ganzen Weg bis zum Berg gegangen?«
    »Nein. Dann könnte ich jetzt noch nicht zurück sein.« Er hob eine Papiertüte. »Ich hab was Leckeres mitgebracht.«
    »Vom Bäcker in Waunfawr?«
    »Ja. Er hatte schon zu, als ich auf dem Rückweg vorbeikam, aber die Frau hantierte noch im Laden. Ich soll dir herzliche Grüße bestellen.«
    »Und woher wissen

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