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Der Umweg

Der Umweg

Titel: Der Umweg Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gerbrand Bakker
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zwischen den Eichenstämmen in dem Wäldchen hinterm Gänsehaus dämmerte es schon. Ein paar Schafe hatten sich um das Heu versammelt, die meisten grasten. »Seltsam«, sagte sie. »Am Anfang ist in kurzer Zeit eine nach der anderen verschwunden, aber diese vier halten sich schon eine ganze Weile.«
    Der Junge antwortete nicht.
    »Sie gehören niemandem. Wenn ich nun weggehe.«
    »Dann bin ich noch da.«
    »Ja«, sagte sie langsam. »Dann bist du noch da.«
    Der Junge räusperte sich.
    Sie blickte nach links, zum Eichenwäldchen. Da war ein Geräusch, das sie schon einmal gehört hatte, aber nicht gleich erkannte. Bis der große braunrote Vogel sich von einem Ast in die Luft schwang.
    »Ein Drachen!« sagte Bradwen.
    »Ein Vogel«, sagte sie.
    Er segelte in geringer Höhe über die Wiese und verschwand wie beim letzten Mal hinter dem Dach, das für ihn so etwas wie eine Sprungschanze zu sein schien. Die Gänse wurden unruhig.
    »Es ist ein roter Drachen.«
    Sie kam nicht darauf, was er meinte. Das Wort kite , das er schon zweimal gebraucht hatte, bedeutete noch etwas anderes, das war ihr klar, und irgendwo in ihrem Kopf hätte es jetzt klicken müssen, hätte sein Englisch unmerklich zu ihrem Englisch werden müssen, so daß sie ihn ganz von selbst verstand. »Drachen«, sagte sie auf niederländisch.
    »Was?«
    »Drachen. Ich habe dich nicht verstanden.«
    »Ich habe dich nicht verstanden.«
    In ihrer linken Schläfe begann es zu hämmern. Sie hatte kite sagen wollen, das wußte sie genau, ihre Zunge sollte sich in Richtung Gaumen bewegen, weiter nach hinten, aber statt dessen tippte sie die Wulst hinter den oberen Schneidezähnen an und entspannte sich, um am Schluß wieder die gleiche Stelle zu berühren. Bradwen sagte Unverständliches, stieß bloße Laute aus, sie blickte ihm in die Augen, diese schielenden Augen, die sie nicht mehr losließ, weil sie hoffte, er könnte sich ihr auf andere Weise als mit Wörtern und Lauten mitteilen.
    » There, there .« Das verstand sie. Seine Arme um ihren Bauch, als befürchte er, daß etwas herausfallen könnte, auch das kannte sie. Sein Atem in ihrem Nacken. Die Gänse stellten sich blind und taub, sie waren weißer als in den letzten Tagen, ihre Schnäbel jetzt bräunlich, nicht so grell orangefarben wie im Schnee. Geht doch bitte wenigstens einmal da hinein, dachte sie. Die Schafe waren fast nicht mehr zu sehen. Ihre Hände auf dem obersten Brett des Tors. Als würde sie sich darauf stützen, sich gegen den Jungen stemmen. Wenn jetzt jemand vorbeikäme, könnte er denken, daß der Junge sie vergewaltigte. Hat der Drachen im Englischen seinen Namen von diesem großen braunen Vogel? überlegte sie. Milan! fiel ihr ein. Rotmilan. Der Junge vergewaltigt mich nicht, dachte sie. Er kümmert sich um mich. Er ist ein lieber Junge. Ein hübscher Bodenturner. Und er müßte längst fort sein.
    »Ich brauche eine Tablette«, sagte sie.
    »Was für eine Tablette?«
    »Eine von denen, die mir der Hausarzt heute morgen verschrieben hat.«
    »In Caernarfon?«
    Sie blieb einfach so stehen. Sie konnte wieder normal mit ihm sprechen.
    Der Junge rieb mit den Unterarmen über ihren Bauch, atmete auf ihren Hals. Nicht mehr irgendein Junge, ein Sohn.
    »Eins wüßte ich gern«, sagte sie.
    »Ja?«
    »Wie kommt es, daß du heute mittag oder vormittag, das weiß ich nicht mehr …« Ich weiß es wirklich nicht mehr, dachte sie. Vielleicht ist ja schon der nächste Tag? Ihr Blick wanderte über das dampfende Land. Wie kann sonst der ganze Schnee schon verschwunden sein?
    »Ja?«
    Also doch nicht der nächste Tag? »Wieso bist du vom Bach und von der Gartenmauer her gekommen?«
    »Ich hab einen Umweg gemacht, am Steinkreis vorbei.«
    »Was wolltest du da?«
    »Mich umschauen. Es lag noch Schnee, ich hätte Pfotenabdrücke sehen können.«
    »Und?«
    »Nichts.«
    Keine Dachse, kein Fuchs. Kein Hund. Schade, daß Sam nicht mehr da war. Wäre er nicht mit dem Schafzüchter weggefahren, hätte er sich jetzt an ihre Beine geschmiegt oder sich am Tor hochgestellt, um an ihre Hände zu kommen. Um sie zu lecken. Die Hände des Alpha-Weibchens.
47
    Eine Karte kaufen, schreiben, abschicken – leichter gedacht als getan. Allein schon das Aussuchen. Im Schreibwarenladen um die Ecke gab es sieben Drehständer voll Karten. Ein unglaublicher Betrieb herrschte in dieser Bruna-Filiale, er mußte seine Krücken einsetzen – »Paß auf, Josje, der Herr möchte vorbei!« –, um zu den Karten vorzudringen. Alles

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