Der Umweg
In der Toilette klappte er den Deckel herunter und setzte sich mühsam hin, eigentlich hätte er die Tür offenlassen müssen, um Platz für seinen Fuß zu haben. Im Wohnzimmer konnte er nicht an seine Frau denken. Er mußte sich entscheiden, was er seinen Schwiegereltern sagen wollte. Ob er es ihnen sagen sollte oder nicht. Eigenartige Menschen, einfach nicht greifbar. Wie sein Schwiegervater dem Polizisten erzählt hatte, daß er Baldrian nahm, um schlafen zu können. Die Schwiegermutter mit einem Heft auf dem Schoß, in dem sie Rundenzeiten notierte. Nicht einzuschätzen. Er versuchte sich zu erinnern, wann er zuletzt einen Brief geschrieben hatte, alles daran kam ihm plötzlich so altmodisch vor. Stift, Papier, Umschlag, Marke, Briefkasten. Sein Oberarm tat unter der Achsel ein bißchen weh, dort hatte der Polizist drei-, viermal zugepackt. Er drehte den Hahn des Waschbeckens auf und wieder zu. Hier konnte er genausowenig an seine Frau denken; unmöglich, sie sich in einem Haus auf dem Land vorzustellen.
In den vergangenen zwei Monaten hatte sich viel verändert, das Alleinsein war schon nicht mehr ungewohnt. Nach ein paar Tagen zu Hause – Fuß auf einem Hocker, Bierchen in Reichweite – hatte er die Hausarztpraxis angerufen. Man wollte ihm nichts sagen. Er war sehr energisch geworden, man verband ihn mit seiner Hausärztin. Auch bei ihr nur eisiges Schweigen. Er fragte noch nach dem Ergebnis der Fruchtbarkeitsuntersuchung, daran hatte er bei seinem Besuch gar nicht gedacht. Diese Informationen seien ebenfalls vertraulich. Am Ende des Gesprächs erkundigte sie sich, wie es seinem Fuß ging. Darüber mußte er laut lachen, und noch während er lachte, hatte er aufgelegt. Er war ratlos, er wußte ja selbst fast nichts, was also sollte er seinen Schwiegereltern sagen. Er wuchtete sich hoch.
»Du warst aber lange weg«, sagte die Mutter.
»Tja.« Er zeigte auf das Bein mit dem Gips.
»Wir sind sehr froh, wirklich sehr froh. Daß man sie gefunden hat«, sagte der Vater.
»Sollen wir nicht anstoßen?« fragte die Mutter. Der Wettkampf war vorbei, jetzt lief Werbung, der Ton war ganz ausgeschaltet. Das Heft hatte sie auf die Fensterbank gelegt.
»Ja, das machen wir. Trink du doch einen Weißwein«, antwortete der Vater. »Die Flasche steht im Kühlschrank, die müßte sowieso mal geleert werden.«
»Und ihr Männer? Einen Schnaps?«
»Gern«, sagte der Polizist.
Ihr Männer, dachte der Mann. Einen Schnaps. »Gib mir auch einen.«
»Dann könntest du auch gleich mal etwas Dauerwurst aufschneiden«, sagte der Vater zum Rücken der Mutter. »War es teuer?«
»Ja«, antwortete der Mann. »Ziemlich teuer.«
Der Vater schaute ihn an. Der Mann wartete darauf, daß er ihm anbieten würde, einen Teil des Detekteihonorars zu übernehmen. Statt dessen wandte sich der Vater dem Polizisten zu. »Wieso habt ihr ihn eigentlich nicht eingesperrt?« fragte er.
»Weil er so ein netter Kerl ist.«
»Du hast mir nicht die ganze Wahrheit gesagt«, meinte der Polizist. Sie gingen auf dem glatten Gehweg zur Van Woustraat zurück. Nach zwei Schnäpsen war das schon etwas einfacher.
»Ich weiß«, sagte der Mann. »Es ist ein seltsames Paar.«
»So etwas merkt man sich.«
»Wie meinst du?«
»Ich könnte mich auch bei anderen Gelegenheiten fragen, ob du ganz aufrichtig bist.«
»Du bist doch nicht bei der Kriminalpolizei.«
»Nein, ich bin ein einfacher Polizist. Aber auch ein Mensch.«
Die Krücken rutschten weg, er mußte den Gipsfuß auf den Boden stellen. Aber er fiel nicht hin, der Polizist hatte ihn schon wieder fest in der Achsel gepackt.
»Niemals«, sagte er, während er den Mann aufrichtete, »niemals weiß man genau, was ein anderer denkt oder fühlt.«
»Gehen wir essen?« fragte der Mann. »Zu Hause hab ich nichts.«
»Gut«, sagte der Polizist. »Nicht weit von hier ist ein Türke. Bis dahin schaffst du’s schon.«
»Mußt du denn nicht nach Hause? Was wird deine Frau sagen? Werden dich deine Kinder nicht vermissen?«
Der Polizist lächelte.
Ich bräuchte eine Art Schulterpolster, dachte der Mann. Aber unter den Achseln. Achselpolster. Er hatte wieder den richtigen Rhythmus gefunden, drückte die Krücken fest in den Schnee. Ich könnte ihr eine Karte schicken, als Luftpost. Ziemlich altmodisch, aber die einzige Möglichkeit.
46
Sie riß Stücke von dem Brot ab und warf sie den Gänsen zu. Drei fraßen davon, die vierte beobachtete sie. Der Schnee war fast spurlos weggetaut, das Land dampfte,
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