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Der Umweg

Der Umweg

Titel: Der Umweg Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gerbrand Bakker
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sich, die angebrochene Medikamentenschachtel. Sie hätte gern noch eine Tablette geschluckt. Wie beim Aussteigen aus der Wanne, als sie ihren Körper verzögert wahrgenommen hatte, schien auch hier draußen alles eine Viertelsekunde neben dem Takt zu sein. Sie wollte, daß es so blieb.
    Shirley, der Hausarzt, das Bäckerehepaar, Rhys Jones und Bradwen. Der Junge wirkte sehr nackt so ohne Hund, hinter den Töpfen mit mageren, tropfenden Rosensträuchern, die Gurte eines kleinen Rucksacks auf den Schultern. »Komm«, sagte sie, als der Wagen nicht mehr zu hören war. Wenn sie ihn nicht rief, blieb er wahrscheinlich einfach stehen. Sie warf die Zigarette weg und faßte den Jungen an der Taille. Sein Daypack war im Weg, sie zwängte die Hände zwischen seinen Rücken und den Rucksack, drückte den Jungen an ihre Brüste. Er roch unglaublich angenehm. Sie ließ die Hände abwärts gleiten und zog seinen Unterleib an sich.
    »Socken?« fragte er noch einmal. Warmer Atem an ihrem Hals. Er hatte die Arme locker um sie gelegt.
    »Der Mann weiß nicht, wovon er redet«, sagte sie. Sie sah die Eiche, ein umgefallener Kerzenständer mit ungleichen Armen. Wenn der Baum dort liegenblieb, würde er im Laufe der Zeit zu einer zweiten Moosbrücke werden. Duft von frischem Brot überdeckte den Geruch des Jungen.
45
    Der Mann stellte das Bein anders hin. So fühlte es sich im Augenblick an: Er verschob nicht mehr den Fuß, sondern das Bein als Ganzes, seit ein paar Tagen kam ihm der Gipsklumpen schwerer vor, das Bein steif. Weil er nicht Auto fahren konnte, hatte er die Straßenbahn genommen, die 4 in Richtung De Pijp, um sich zuerst in der Kneipe in der Van Woustraat mit dem Polizisten zu treffen. Er war froh, daß er nicht allein zu seinen Schwiegereltern mußte. Zwischen der Kneipe und dem Haus seiner Schwiegereltern waren die Gehwege nicht geräumt, nicht einmal gestreut, der Polizist hatte ihn mehrmals vor dem Hinfallen bewahrt. Im Fernsehen wurde Eisschnellaufen übertragen, die Kommentatoren waren zu hören, aber nicht zu verstehen. Der Sportler, der auf dem Plakat an der Straßenbahnhaltestelle für Brot geworben hatte, lief eine Langstrecke. Der Schwiegervater hatte Tee gekocht, weil dem Polizisten Tee lieber war als Kaffee. Neben dem Fernseher stand ein bunt geschmückter Weihnachtsbaum, die Schwiegereltern liebten es altmodisch. Die Lichter wurden nur an den beiden Weihnachtstagen angezündet. Aber die Kerzen des Dreieckständers auf der Fensterbank brannten, sie tauchten eine weiße Amaryllis in ein zartorangenes Licht.
    »Wie haben sie das rausgefunden?« fragte der Vater.
    »Keine Ahnung. ›Darüber kann ich Ihnen keine Auskunft geben‹, sagte die Frau, die mich anrief.«
    »Eine Frau?«
    »Ja.«
    »Wales. Wieso gerade Wales? Was will sie denn da?«
    »Ein englischsprachiges Land ist natürlich nicht so abwegig.«
    »Und was hast du mit alldem zu tun?«
    Der Polizist warf dem Mann einen raschen Blick zu, bevor er antwortete. »Er kann nicht fahren«, sagte er und zeigte auf den Gips. »Und ich habe noch einiges an Resturlaub. Den muß ich bis Jahresende aufbrauchen.«
    »Wann fahrt ihr?«
    »Nächste Woche.«
    »Zu Weihnachten?«
    »Ja. Weihnachten ist überall.«
    »Hast du keine Frau? Und Kinder? Was sagen die denn dazu?«
    »Ach, die finden das schon in Ordnung«, sagte der Polizist. »Sie sind ja an meine komischen Dienstzeiten gewöhnt.«
    »Hm«, machte der Vater.
    »Unglaublich«, sagte die Mutter.
    »Was ist?«
    »Dieser Kramer ist ein Teufel. Jetzt legt er auch noch zu.«
    »Hast du eigentlich gehört, was wir besprochen haben?«
    »Sicher. Ich habe mir nie richtige Sorgen gemacht.«
    »Ich schon.« Er goß allen eine zweite Tasse Tee ein. »Ich mußte abends Baldrian einnehmen«, sagte er zu dem Polizisten. »Sonst wäre an Schlaf nicht zu denken gewesen.«
    »Baldrian ist gut«, antwortete der Polizist. »Nehme ich auch manchmal.«
    »So?«
    »Hast du Kontakt mit ihr aufgenommen?« fragte der Vater.
    »Nein, wie denn«, sagte der Mann. »Über ihr Handy ist sie immer noch nicht zu erreichen.«
    »Aber du hast ihre Adresse?«
    »Ja. Das heißt, ich habe den Namen eines Hauses.«
    »Dann könntest du ihr also einen Brief schicken.«
    »Das ginge.« Der Mann schaute kurz auf den Bildschirm. »Es ist wirklich unglaublich, daß man sie gefunden hat.«
    »Die verstehen ihr Handwerk«, meinte der Polizist.
    Der Mann stand auf. »Ich geh gerade mal zur Toilette«, sagte er, nahm eine Krücke und humpelte in den Flur.

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