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Der unausweichliche Tag - Roman

Der unausweichliche Tag - Roman

Titel: Der unausweichliche Tag - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Suhrkamp-Verlag <Berlin>
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schaukelte. Und er dachte: Wenn ich an den Rand liefe, an den nördlichen Rand des Hochplateaus, wo der Mistral am schärfsten an der Schwerkraft zerrt, müsste ich nur einen kurzen Moment warten, bis ich fortgeschleudert würde. Ich würde in die Dunkelheit stürzen, dorthin, wo – geräuschlos, stumm – Lal liegt und wartet.
    Und dann würde es vorbei sein.
    Es würde vorbei sein.
    Es würde kein Herumtändeln mehr geben, kein Flirten mit der Zukunft in ihren ständig neuen, ständig sich änderndenVersionen. Ich würde einfach vom Wind hochgehoben und auf ein Bett aus Asche geworfen.
    Und ich wäre einverstanden.

J eanne Viala suchte sich mit den Kindern am Waldrand, dicht bei den Eichen, einen Platz auf Audruns kleiner Wiese.
    Im Museum der Cévenoler Seidenproduktion war die Klasse brav und aufmerksam gewesen. Sogar der konzentrationsgestörte Jo-Jo hatte sich für die Exponate interessiert, und alle Kinder hatten sich große Mühe gegeben, die verschiedenen Stadien der Seidenraupenzucht zu malen: Erst das Ausbrüten der Eier in den am menschlichen Körper verborgenen Beuteln; dann das Verteilen der Raupen in den magnaneries; später die Vorrichtungen zum Fernhalten von Ratten und Ameisen; das Sammeln von Maulbeerblättern; die montada der ausgewachsenen, fünf Zentimeter langen Raupen auf besenartige Heidekrautbüschel; das Spinnen der Kokons; das Verbrühen der geschlüpften Schmetterlinge in den Kokons, bevor der Seidenfaden abgehaspelt wird …
    Nur das Pariser Mädchen Mélodie hatte einen unglücklichen Eindruck gemacht. Ihr nur widerwillig gemaltes Bild hatte aus lauter kreuz und quer über das Blatt laufenden dunklen Linien bestanden. Als Jeanne Viala sie fragte, was das Bild denn bedeuten solle, hatte Mélodie mit erstickter Stimme geantwortet: » Les flats . All die toten Raupen.«
    Und dann, beim Picknick unter den großen, dunklen Bäumen, das wirklich nett war – ja, sogar so gelungen, dass Jeanne diesen glücklichen Moment am liebsten mit ihrem neuen Freund Luc geteilt hätte, der bei der Feuerwehr arbeitete –, stand Mélodie plötzlich auf und rannte weg. Ohne zu fragen und sogar ohne sich umzudrehen, als Jeanne ihr hinterherrief.
    Jeanne hatte dann entschieden, sie laufen zu lassen. Sie kannte diese Terrassen. Dort konnte dem Kind nichts passieren. Das Gelände lag weit unterhalb der Straße. Und der Weg zum Fluss war unpassierbar, weil Aramon nun schon seit Jahren die Vorschriftender Gemeinde zur Pflege und Erhaltung des Flussufers ignorierte. Jeanne wollte auch nicht gern die ganze Gruppe alleine lassen, um hinter einem einzelnen Kind herzurennen. Mélodie würde hoffentlich bald zurückkehren. Als Nachtisch hatte Jeanne Kirschlimonade eingepackt, vielleicht könnte sie Mélodie damit überreden, sich wieder zu setzen.
    Die Kinder selbst hatten Mélodie einfach nur hinterhergestarrt, als sie wegrannte. Hatten gestarrt und gestarrt.
    »Sie mochte die Seidenraupen nicht«, sagte Magali. »Sie findet sowieso nur Tanzunterricht und Geige gut!« Und darüber lachten die anderen, und Jo-Jo verkündete: »Sie hält sich für was Besseres, nur weil sie früher in Paris gewohnt hat, die blöde Kuh.«
    »Hör auf, Jo-Jo!«, befahl Jeanne. »Ich dulde solches Gerede nicht.«
    »Sie ist ja auch jüdisch«, murmelte Stéphanie. »Hartmann ist doch ein jüdischer Name.«
    » Was hast du gesagt, Stéphanie?«, fragte Jeanne.
    »Nichts …«
    Jeanne setzte ihre Evianflasche ab. Sie breitete die Arme aus, als wollte sie jemanden umarmen. »Hört mal alle her«, sagte sie. »Schweigt jetzt alle einen Moment mal still und hört mir zu. Jo-Jo, du bist auch gemeint. Ich möchte euch daran erinnern, dass in diesem Land tolerante Menschen leben. Wisst ihr, was tolerant bedeutet? Es bedeutet, dass wir jeden Menschen in unsere Gemeinschaft und in unsere Herzen aufnehmen, ganz egal, aus was für einer Familie er stammt, welche Religion er hat, aus welcher Stadt er kommt. Und das bedeutet auch – jetzt hört bitte sehr genau zu –, es bedeutet auch, dass wir niemanden hänseln oder beschimpfen. Habt ihr das verstanden? Ich würde wirklich gern wissen, ob ihr das alle verstanden habt.«
    Die Kinder schwiegen, alle miteinander. Jeanne schüttelte bekümmert den Kopf. »Die Art, wie Mélodie Hartmann in dieser Klasse behandelt wird, ist … enttäuschend. Sie war in Pariszu Hause. Und daran ist nichts Verkehrtes. Sie versucht, sich an ihre neue Umgebung anzupassen. Aber ihr gebt ihr keine Chance …«
    »Sie

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