Der unausweichliche Tag - Roman
›passt sich nicht an‹«, sagte Magali. »Sie erzählt nur dauernd, wie toll ihre Schule in Paris war.«
»Sie hat Heimweh, das ist alles«, sagte Jeanne. »Wenn ihr euch allesamt anstrengt und freundlicher zu ihr seid, wird sie auch kein Heimweh mehr haben. Und deshalb möchte ich, dass ihr heute einen Entschluss fasst. Hört ihr auch zu? Stéphanie? Ich möchte, dass ihr von heute an nett zu Mélodie seid. Einverstanden? Und zwar richtig nett. Lasst sie bei euren Spielen mitmachen. Wenn sie mit irgendwas nicht zurechtkommt, helft ihr. Okay? Ich hoffe wirklich sehr, dass alle das verstanden haben.«
Einige Mädchen nickten. Die meisten Jungen schauten weg und machten ein desinteressiertes Gesicht.
»Können wir jetzt die Limonade kriegen?«, fragte Suzanne, das jüngste Mädchen der Klasse.
Jeanne schwieg. Sie hatte eine etwas andere Reaktion der Kinder erwartet. Die Art, wie das Pariser Mädchen behandelt wurde, hatte ihr schlaflose Nächte bereitet. Sie musste an die arme Audrun Lunel denken und an das, was Marianne gesagt hatte: »Wenn man schon früh im Leben verletzt worden ist, erholt man sich manchmal nie mehr davon, und das ist eine echte Tragödie.«
Jeanne holte die Kirschlimonaden aus der Kühltasche. »Bevor ich die verteile«, sagte sie, »möchte ich von jedem von euch hören, dass ihr mich verstanden habt. Sagt bitte: ›Mélodie Hartmann wird nicht mehr gehänselt werden.‹«
Die erste Flasche war unterwegs zum ersten Kind … sie war unterwegs, erreichte aber nicht seine Hand und entlockte dem Kind auch nicht den gewünschten Satz, denn … in dem Moment hörten Jeanne und die Kinder das Schreien.
Jeanne ließ die Flasche fallen und war im Nu auf den Füßen. Alle Kinder drehten den Kopf und blickten zum Ende der Wiese.Jo-Jo und sein Freund André sprangen aufgeregt hoch. »Was ist das, Mademoiselle? Was ist das?«
»Ihr wartet hier«, befahl Jeanne der Gruppe mit fester Stimme. »Ihr wartet hier und rührt euch nicht vom Fleck. Jo-Jo und André, setzt euch bitte sofort wieder auf die Decke. Niemand entfernt sich von hier, verstanden? Ihr bleibt, wo ihr seid. Versprecht mir das. Magali, du verteilst die Limonade.«
Immer noch war das Schreien zu hören. Jeanne Viala rannte darauf zu. Sie rannte immer schneller und konnte schon bald fühlen, dass ihr Herz sich, wie das einer alten Frau, verkrampfte, als sie ihre Beine zwang, weiter über die abfallende Wiese zu hetzen. Sie verfluchte sich. Was war das für eine Lehrerin, die einfach sitzen blieb und zuließ, dass ein Kind sich allein von einem Picknick in fremder Umgebung entfernte?
Und … oh Gott … wohin war das Kind eigentlich gelaufen? Als Jeanne das Ende der Wiese erreichte, hatte das Schreien plötzlich aufgehört. Sollte sie weiter geradeaus laufen, über die Viehweide, die zum Fluss führte, oder nach links? Sie suchte nach möglichen Fußspuren, konnte aber im trockenen Gras nichts erkennen außer herumhüpfende rotrückige Grillen und die von der Sonne verbrannten trockenen Blütenteller der Schierlingspflanzen.
Sie rief: »Mélodie! Mélodie!« Doch jetzt schien sich eine furchtbare Stille über die ganze Welt zu senken. Das Lauteste war das Klopfen von Jeannes eigenem Herzen. Sie massierte ihre Brust. Die weiße Bluse klebte ihr am Körper. Luc, hätte sie am liebsten gerufen, hilf mir …
Dann appellierte sie an die eigene Vernunft: Probier erst die eine Richtung, dann die andere. Ruf sie die ganze Zeit. Alles hängt jetzt an dir.
Sie stolperte weiter, rief den Namen des Kindes, erklärte ihr, sie sei auf dem Weg, sie komme gleich, es sei alles in Ordnung … Sie zwängte sich durch ein verrostetes Eisentor und betrat die Viehweide. Sie hatte gedacht, auf dem feuchten Grund derWeide gebe es Spuren, denen sie folgen könnte. Doch nun sah sie, dass das Gras hier ebenfalls braun und verdorrt war, und es war hoch und struppig, und mit ihren weißen Leinenschuhen verhakte sie sich, stolperte ständig, wäre fast gefallen, konnte sich aber noch halten und rannte weiter und hielt auf ein schütteres Eschenwäldchen zu, hinter dem das Flussufer lag.
Sie war jetzt völlig außer Atem, kämpfte in der ungeheuren Hitze mit den Büscheln aus totem Gras. Sie blieb einen Augenblick stehen. Was konnte sie hören?
Nichts. Nur den Schrei eines Raubvogels, eines Bussards oder Sperbers. Und dann … ja … noch etwas … das Geräusch des Flusses. Sie lief in diese Richtung, lief durch das Eschenwäldchen und war dankbar für den
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