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Der unausweichliche Tag - Roman

Der unausweichliche Tag - Roman

Titel: Der unausweichliche Tag - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Suhrkamp-Verlag <Berlin>
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Stöhnen.
    Du musst sie wärmen, befahl Jeanne sich. Trag sie ans Ufer! Zieh ihr die Kleider an! Hol Hilfe! Ruf Luc an! Sag ihm, er soll einen Krankenwagen schicken! Ruf Maman an, sie soll kommen und auf die Kinder aufpassen!
    Jetzt musste sie das Kind mit seinem ganzen Gewicht hochheben, musste sich irgendwie umdrehen und, ohne zu rutschen und zu fallen, zum Kiesstrand zurückwaten. Mélodie im Arm, schaute Jeanne in alle Richtungen, um den sichersten Weg durchs Wasser auszumachen.
    Hinter dem Felsblock war eine tiefe Stelle, eine Art Becken. Und Jeanne Viala entsann sich dunkel an solche Becken, in denen sie mit ihrem Vater herumgepaddelt und -geschwommen war, damals, als er noch lebte. Häufig hatte er auch versucht, unter den überhängenden Felsen eine Forelle fürs Abendessen zu fangen.
    Sie starrte auf das grün schimmernde Becken. Und tatsächlich entdeckte sie Fische darin. Aber tote: Zwei tote Fische trieben mit dem weißen Bauch nach oben an der Wasseroberfläche. Seltsamerweise wurden sie aber nicht von der Strömung fortgetragen … als hingen sie unter Wasser an irgendetwas fest … das waren gar keine Fische …
    Jeanne schauderte. Sie blickte weg. Zitternd umklammerte sie das Mädchen und spürte, wie sich ihr der Magen umdrehte. Mit aller Macht versuchte sie den Brechreiz zu unterdrücken, doch es gelang ihr nicht. Ihr Körper krümmte sich, und sie erbrach ihr Sandwich. Teile des Erbrochenen landeten auf Mélodies Arm. Dann spülte das Wasser alles weg, trug es in das grüne Becken, zu den weißen Fußsohlen des Toten und zu dem dünnen Strudel aus etwas, das wie roter Rauch hochtrieb, von unten aus der Tiefe, wo der Kopf liegen musste.

N un nahte er also.
    Audrun wusste, dass es der letzte Sturm ihres Lebens sein würde, und wenn er vorüber war, wenn sie ihn überlebte, dann würde alles anders sein, und sie wäre frei. Er brach an einem späten Nachmittag über La Callune herein, als die Sonne noch heiß brannte und der Himmel blau und leer war.
    Als Erstes hörte Audrun das Heulen eines Krankenwagens, dann sah sie ein ganzes Aufgebot an Polizeiautos auf der Straße. Sie fing an, die Polizisten zu zählen: fünf, sechs, sieben … und sie dachte: Wahrscheinlich muss ich alles siebenmal sagen, immer noch einmal, immer wieder, immer dieselben Sätze.
    Sie ging in ihr Schlafzimmer und wechselte die Kleidung, zog ein sauberes Baumwollkleid an und braune Sandalen, die sie auf dem Markt in Ruasse gekauft hatte.
    Sie brachte ihr Haar in Ordnung. Sie konnte die Funkgeräte der Polizei wie Zootiere keuchen und kreischen hören. Es war alles exakt so, wie sie es sich vorgestellt hatte, wie im Kino – wie in den aberhundert Filmen, die sie gesehen hatte, wenn sie an Winternachmittagen allein in ihrem Sessel saß, mit der gehäkelten Decke über den Knien und dem Licht vom Fernseher als einziger Beleuchtung im Raum –, und diese Filme hatten ihr auch noch etwas anderes gezeigt: Sie hatten sie gelehrt, wie sie, die unschuldige Zeugin, sich zu verhalten hatte.
    Halb erwartete sie, dass Aramon, flennend vor Angst, zu ihr in die Kate gelaufen kam, doch er erschien nicht. Deshalb wusste sie, was er tat: Er versteckte sich. Irgendwo, wo er sich sicher fühlte: im Schrank mit seinen alten Kleidern und seiner Flinte; auf dem Dachboden; im Steineichenwäldchen hinter dem Hundezwinger. Als müsste er sich nur wie ein Igel zusammenrollen, um unsichtbar zu sein …
     
    Es wurde schon Abend, als der erste Polizist an Audruns Tür klopfte. Ein zweiter Mann in Zivil begleitete ihn, einer von der Sorte, die in Fernsehfilmen immer alles zu einem sinnvollen Ganzen zusammensetzen muss.
    Dieser Mann wird – anders als die bloßen flics – gewöhnlich mit einem beschädigten Privatleben ausgestattet: einer scheiternden Ehe, einem Alkoholproblem oder einer unheilbaren Melancholie; all dem, was Filmfiguren so menschlich und echt macht.
    Deshalb wusste Audrun auch, dass sie diesem Mann alles erzählen musste – mit leicht stockender Stimme (wegen des großen Schocks), aber durchaus in einer Reihenfolge, die logisch klang. Und dieser Mann würde freundlich zu ihr sein, ihr geduldig zuhören, während der flic sich Notizen machte …
    Sein Name war Inspektor Travier. Er war um die vierzig, und er sah gut aus. Er setzte sich in Audruns Küche, die ordentlich und sauber war.
    »Im Fluss wurde eine männliche Leiche gefunden«, erklärte er ernst.
    Audrun rang nach Luft. Das Warten auf diese Worte kam ihr im Nachhinein

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