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Der unausweichliche Tag - Roman

Der unausweichliche Tag - Roman

Titel: Der unausweichliche Tag - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Suhrkamp-Verlag <Berlin>
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Mundwinkel. Marianne Viala blickte Audrun fragend an und legte dann ihre Hand auf Aramons Arm.
    »Du solltest besser auf dich achtgeben, Aramon«, sagte sie. »Aber hör zu, ich möchte dich um einen Gefallen bitten.«
    Aramons Augen schossen nervös hin und her. Und Audrun wusste, was dieses Flackern bedeutete: Bitte mich nicht um einen Gefallen. Ich bin zu krank, zu müde und zu verängstigt dafür.
    »Ja?«, sagte er. »Und?«
    »Jeanne besucht morgen mit ihrer Klasse das Museum der Cévenoler Seidenproduktion in Ruasse, und danach würde sie gern mit den Kindern hierher kommen. Lunchpakete bringt sie selber mit, sie bräuchte nur ein hübsches schattiges Plätzchen für das Picknick. Und da dachte ich an deine unteren Terrassen … falls du nichts dagegen hast, dass sich die Kinder auf deinem Land bewegen. Es ist nur eine kleine Klasse und …«
    »Auf meinem Land?«, fragte er. »Wo auf meinem Land?«
    »Ich sagte doch: auf deiner untersten Terrasse, dieser Wiese unterhalb der Weinstöcke …«
    »Ich dulde keine Kinder, die auf meinem Grundstück herumschnüffeln. Ich habe dir doch gesagt, es geht mir nicht gut. Ich kann keine Aufregung vertragen.«
    »Sie werden nicht ›herumschnüffeln‹. Sie werden nur ein Picknick machen.«
    »Kinder. Das halte ich nicht aus …«
    »Du kannst das Picknick auf der anderen Seite der Straße machen«, sagte Audrun ruhig. »Auf meinem Land. Da hinten beim Wald.«
    »Oh«, sagte Marianne. »Aber ich dachte … wenn Aramon nichts dagegen hätte … ließen sich zwei Dinge kombinieren: Die Kinder könnten das Picknick machen und sich gleichzeitig die Trockenmauern der Terrassen anschauen. Vielleicht auch ein bisschen zeichnen und …«
    »Nein!«, sagte Aramon und warf Marianne einen gequälten Blick zu. »Ich will niemanden in meiner Nähe haben. Ich habe die Nase voll von Fremden. Ich möchte in Ruhe gelassen werden!«
    Er drehte sich abrupt um und begann seinen langsamen Marsch, humpeldipumpel, humpeldipumpel , zurück zum Mas. Und die beiden Frauen sahen ihm schweigend hinterher.
    Als er außer Hörweite war, fragte Marianne: »Wird er sterben?«
    »Lass es mich so sagen«, erwiderte Audrun, »die Zeit hat ihn eingeholt.«

Z eit.
    Das Verlöschen eines jeden Augenblicks, noch bevor er wirklich zu Ende gelebt war – als wäre die Zeit ein Wirbelwind, ein Mistral, der alles ins Jenseits wehte –, das war es, womit Anthony Verey jahrelang – seit es mit seinem Geschäft abwärtsging – hatte kämpfen müssen. Dann hatte er an jenem Frühlingsmorgen hinten in seinem Büro den schwarzen Seidenfaden in dem Aubusson-Wandteppich entdeckt, diesen schwarzen Faden, der aus dem Kopf der heimtückischen Hexe hing, hatte ihn zwischen Zeigefinger und Daumen gehalten und endlich begriffen, was ihn erwartete: der ungeschminkte Tod.
     
    Und so war der gewisse Tag gekommen.
    An diesem unausweichlichen Tag saß Anthony zu seiner eigenen Überraschung auf einem Lehnstuhl aus Mahagoni (»Wahrscheinlich französisch, um 1770. Mit gepolsterter medaillenförmiger Rückenlehne. Sitz und Armlehnen auf geschwungenen Beinen«) und blickte in ein hübsches Zimmer in einem unbekannten, einsamen Haus, durch dessen sämtliche Fenster ein leerer Himmel zu sehen war.
    Sein Blick blieb irgendwo haften, wanderte weiter, blieb wieder haften und wanderte wieder weiter. Das Zimmer war ästhetisch ansprechend – es gab nichts Hässliches darin. Doch genau hier an diesem Ort, in diesem beinahe schönen Zimmer, auf diesem teuren Stuhl, der mit dunkelgrau und weiß gemustertem Damast bezogen war, fühlte Anthony Verey, wie sie an ihm zog und zerrte: die endgültige Niederlage.
    Er saß sehr still. So still, dass er das Pochen seines eigenen Herzens hören konnte. Der Raum hatte eine hohe Balkendecke, die in einem sehr weichen Blaugrünton gestrichen war. Sein Stuhl stand neben einem hohen steinernen cheminée (»Modern.Sandstein. Im englischen Georgian Style. Vereinfachte Linien und zurückhaltender Dekor«), und im Kamin lag ein halb verbrannter Ast auf einem Berg aus Asche.
    Mit seinem fachkundigen Sammlerblick und einem letzten Rest vorhandener Lebenskraft bewunderte Anthony diesen Raum – seine Proportionen, die Aura von Erhabenheit – in dem doch so einsam gelegenen Haus. Für eine kurze Weile gelang es ihm, sich von dem Gefühl der Niederlage abzulenken, indem er sich das Schweizer Ehepaar vorstellte, das diesen Raum erschaffen hatte: sicherlich Anwälte oder Professoren, jedenfalls gebildete Menschen,

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