Der unausweichliche Tag - Roman
ein Paar mit einem vollen Adressbuch, das sie vermutlich mit vielen verschiedenen Welten verband. Menschen, denen das Leben zugelächelt hatte. Die aber auch nicht ihre Seele verraten hatten. Sie waren nicht vulgär. Sie hatten keine Angst vor der Stille.
Doch dann, nachdem einige Zeit verstrichen war, hatten sie begriffen, was Anthony schon jetzt begriff: dass dieses Haus sie auf eine allzu furchterregende Weise exponierte . Es lag zu weit oben, auf einer erbarmungslosen Hochebene, unbewacht, ungeschützt – mit einem Steilhang direkt vor der Tür. Der Wind beugte die Kiefern, die sie als Schutz und Schattenspender gepflanzt hatten, beugte und krümmte sie.
Die Bäume lebten noch. Sie klammerten sich immer noch an die steinige Erde, krallten sich mit ihren hartnäckigen Wurzeln tief in sie hinein, doch das Haus und seine Bewohner konnten sie nicht beschirmen. Die weite Himmelskuppel hatte alles hier fest im Griff. Nachts fand man keinen Schutz vor den eisigen Sternen. Das Universum hielt einen unnachgiebig umklammert. Und alles, was man gewesen war, was man zu werden versucht hatte oder noch zu werden hoffte: es offenbarte sich als Torheit und Täuschung – als wäre alles nur unanständig und würdelos.
Man konnte vielleicht ein Feuer im Kamin machen, sich davorkauern, sich an schmale Tröstungen klammern: an Wein undErinnerungen. Doch überall um einen herum dehnte sich unablässig die Leere. Man sah sich selbst wie aus großer Höhe: sah, wie man von einem Ziel zum nächsten kroch, immer wieder einen neuen Anlauf nahm und immer wieder aufgab, unaufhörlich hoffte und bereute, trostlos verloren …
Anthony umklammerte die Stuhllehnen. Er blickte zu dem angekohlten Ast auf dem Aschehügel. Er mochte nicht länger über das Schweizer Paar sinnieren. Stattdessen packte ihn die Verzweiflung, und plötzlich sah er Lal vor sich, wie sie, die stets so leichtfüßige Lal, in dieses schöne, große Zimmer tänzelte, vielleicht in ihrem lavendelfarbenen Kleid, das sie an jenem Tag getragen hatte, als sie die Leiter zu seinem Baumhaus hinaufgestiegen war und die mit Schlagsahne gefüllten Röllchen gegessen hatte …
Er blickte auf. Ja, da kam sie, seine geliebte Lal, unwirklich wie Zuckerwatte, und etwas erregte ihre Aufmerksamkeit: das Stück Holz auf der kalten Asche, und sie beugte sich vornüber und kniete sich davor und sagte: »Oh, sieh nur, Liebling! Erinnert dich dieser dumme alte Stock nicht an jemanden? Ist das nicht zum Schreien? Ein Stock! Er erinnert mich so an dich!«
Trotz der Beleidigung (oder war es doch nur ein Scherz? Bei Lal konnte man nie sicher sein) wünschte Anthony sich, seine Mutter bliebe bei ihm. In seinem Tagtraum erhob er sich vom Stuhl, nahm ihre Hände, schlang seine Arme um sie, drückte sie fest an sich, barg sein Gesicht in ihrem goldenen Haar und sagte: »Bleib bei mir, Ma. Bitte. Lass mich hier nicht allein.«
»Ist ja gut, Liebling«, sagte sie. »In Ordnung. Ich bleibe. Wenn es sein muss. Ich werde dich halten.«
Doch sie befreite sich aus seinen Armen und ging wieder zum Kamin und kniete sich davor, und dann tat sie etwas Schreckliches: Sie kroch auf den Aschehügel und legte sich nieder, legte sich in die Asche und drückte den angekohlten Ast an ihre Brust.
»Tu das nicht, Ma …«, sagte Anthony.
Überall war Asche – in ihrem Haar, in den Falten ihres Kleids, auf ihren schlanken Beinen, auf ihren nackten Füßen. Er streckte die Hand aus, wollte sie hochziehen, aber sie ließ sich nicht bewegen.
»Ma …«, flehte er. Aber sie lag da, lachte und hielt den Stock fest. Sie lag einfach da und lachte ihr silbernes Lachen und sagte: »Jetzt habe ich dich, Anthony. Siehst du? Das wolltest du doch immer, nicht wahr. Jetzt drücke ich dich ganz fest an mich!«
Er flehte und bettelte: »Ma, steh auf. Du bist voller Asche. Bitte …«
Doch sein ganzes Leben lang hatte sie nicht ein einziges Mal auf irgendetwas gehört, das er gesagt hatte. Und sie konnte ihn auch jetzt nicht hören.
Anthony ging langsam im Zimmer umher, fuhr mit den Fingern sacht und bewundernd über die Möbel und stellte dabei fest, wie gedämpft seine Bewunderung war, als hätten selbst diese edlen Objekte – sie erinnerten ihn an seine Lieblinge – nun keine Bedeutung mehr für ihn.
Er ging nach draußen. Und eine ehrfürchtige Scheu ergriff ihn beim Anblick der Berge, die sich von Horizont zu Horizont erstreckten. Der Wind blies so stark, dass das geparkte Auto auf der Kieszufahrt leicht
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