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Der unausweichliche Tag - Roman

Der unausweichliche Tag - Roman

Titel: Der unausweichliche Tag - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Suhrkamp-Verlag <Berlin>
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löcherigen Schatten der mageren Bäume, der sie wenigstens momentweise vor der Sonne schützte. Der Fluss wurde jetzt lauter. Aber hinter den Bäumen und vor dem Flussufer lag ein Streifen aus Dornengestrüpp und Brennnesseln. Da hatte das Kind sich doch wohl nicht durchgekämpft!
    Jeanne blieb wieder stehen. Sie wollte sich schon umdrehen und über die Weide zurücklaufen, als sie merkte, dass das dort gar keine Brennnesseln waren, sondern jenes fedrige dunkle Kraut, das sich an einigen schattigen Stellen auch in das steinige Ufer des Gardon krallte. Schlangen bauten dort, wo die Fischer nicht hinkamen, manchmal ihre Nester.
    Und dann sah sie, dass an einer Stelle mehrere Büschel plattgedrückt waren. Vielleicht war sie am Ende doch auf dem richtigen Weg? Sie folgte den Spuren und stellte sich vor, wie die kleinen Füße die Pflanzen niedergetreten hatten, wie das Kind, ohne in seinem Unglück an Schlangen zu denken, einfach nur weiterhastete, weg vom gemeinen Jo-Jo und den zickigen Mädchen, und sich einen Weg durch das wuchernde Unkraut bahnte …
    Jeanne erreichte das Ufer an einer steinigen Stelle und sah, wie das Wasser sehr langsam, aber unerschütterlich dahinfloss,fast konnte sie zusehen, wie es immer langsamer wurde, so wie jeden Sommer, wenn nach dem April kein Regen mehr fiel. Doch sie schaute nicht länger auf die Strömung, sondern begann, nach Fußspuren im Kies zu suchen. Die Steine waren rau und rutschig, aber direkt am Rand des Wassers sah sie einen schmalen grauen Sandstreifen, und dorthin strebte sie und glaubte Spuren zu erkennen, die nach links führten, zur Biegung des Flusses.
    »Mélodie … Mélodie …«, rief sie von neuem und wusste, dass ihre Stimme kaum noch weit trug. Sie fühlte sich erschöpft. Als wäre sie zu Fuß von Ruasse nach La Callune gelaufen, die ganze Zeit bergauf, vorbei an all den heruntergefallenen Felsbrocken am Straßenrand. »Oh, bitte, bitte mach, dass ich sie finde«, sagte sie. »Bitte mach, dass sie am Leben ist …«
    Jeanne lief um die Flussbiegung. Sofort sah sie das Kind, nackt bis auf seine rot und weiß gemusterte Unterhose, ausgestreckt auf einem großen Felsblock mitten im Fluss liegen. Mélodie lag auf dem Rücken, ihre Beine baumelten vom Rand herunter, und ihr Körper drohte jeden Augenblick von der eigenen Schwerkraft ins Wasser gezogen zu werden. Die Kleider, die sie auf dem Ausflug getragen hatte, lagen verstreut auf dem Kiesstrand.
    Kalt war es. Plötzlich fror Jeanne. Und die Vorstellung, sie sollte durch das eisige Wasser waten, war unerträglich. O Gott … wenn doch nur Luc hier wäre, das Kind in seinen Armen bergen und den bösen Fremden verscheuchen könnte, der sich womöglich hier irgendwo am Fluss versteckt hielt … Aber manchmal, das wusste Jeanne, gab es niemanden, keinen Luc, keine Marianne, keinen irgendwen. Dann war man allein, dann hatte man einfach weiterzumachen. Und dann geschah eben, was geschah …
    Jeanne streifte die Leinenschuhe ab, dachte an ihr Handy in der Jeanstasche und schob es in einen Schuh. Sie ging in den Fluss und spürte sofort, wie die Kälte ihr in die Waden biss. Siehielt sich an den großen Steinen fest, um halbwegs sicher in dem glitschigen Kiesbett voranzukommen. »Hier bin ich«, sagte sie ein ums andere Mal laut. »Hier bin ich. Hier bin ich …«
    Und sie war auch fast da. Sie streckte die Hand aus. Sie sprach wieder den Namen des Kindes aus: »Melodie.« Sie berührte das kleine, glatte Bein, das mit dem großen Zeh fast bis ins Wasser reichte. Sie hielt das Bein fest. Dann lehnte sie sich ganz fest gegen den Felsen und packte das Kind. Mélodie lag noch immer auf dem Stein, aber jetzt wurde sie gehalten, gehalten von Jeanne Vialas Armen. Ihre Augen waren geschlossen. Ihr Mund stand offen. Aber Jeanne konnte fühlen, dass ihr Herz schlug und dass sie atmete.
    Sie schüttelte das Mädchen und sprach laut auf sie ein, erklärte ihr, dass sie jetzt in Sicherheit sei. Und zu ihrer unbeschreiblichen Erleichterung öffnete Mélodie die Augen. Und Jeanne spürte, wie die dünnen Arme des Kinds sich um ihren Hals legten und sie fest umklammerten.
    Jeanne wiegte sie sanft, drückte sie so fest sie konnte an sich und machte sich daran, das Kind durch das Wasser ans Ufer zu tragen.
    »Was ist passiert?«, fragte sie vorsichtig. »Bist du verletzt? Hat jemand dich verletzt?«
    Aber Mélodie konnte nicht sprechen. Sie öffnete den Mund, doch es kamen keine Worte heraus, sondern nur ein leises, melodisches

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