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Der unausweichliche Tag - Roman

Der unausweichliche Tag - Roman

Titel: Der unausweichliche Tag - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Suhrkamp-Verlag <Berlin>
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Mutter
    Geboren in Johannesburg 1913 – Gestorben in Hampshire 1977
     
    Am Fußende der Steinplatte, die Lals Grab bedeckte, war ein frisches kleines Loch ausgehoben. Da hinein würden Anthonys sterbliche Überreste kommen – tief in die Erde, nicht neben seine Mutter, sondern ihr zu Füßen.
    Das war sein Wunsch gewesen, sein letzter Wille. Doch eine Zeit lang hatte es so ausgesehen, als könnte diesem Willen nicht stattgegeben werden. Der Kirchhof in Netherholt sei voll, hatte man Veronica beschieden. Ihr Bruder müsse auf den »Trabanten«-Friedhof hinter dem Gemeindezentrum.
    Trabanten.
    Veronica wusste, dass dieses Wort Anthony nichts ausgemacht hätte. Es hätte ihm auch nichts ausgemacht, in der Nähe vom Netherholter Gemeindezentrum zu liegen, einem niedrigen Backsteinbau, in dem ziemlich alkoholische Hochzeiten, Kinderfeste, Bingo-Abende, Amateurtheateraufführungen und (wie man hörte) illegale Technopartys stattfanden. Anthony wollte nur nahe bei Lal sein, so nah, wie es eben ging. Nichts zu machen!
    Lloyd hatte die Lage gerettet. »Ich finde eine Lösung«, hatte er Veronica munter erklärt. »Die anglikanische Kirche macht gern ein großes Bohei um alles, dabei muss man doch nur daran denken, dass alle kleinen Gemeinden praktisch bankrott sind. Überlassen Sie das nur mir, Veronica.«
    Was hatte es Lloyd Palmer wohl gekostet, dass Anthonys Asche nun doch hier begraben werden durfte? Veronica fragte nicht. Aber der Pfarrer von Netherholt hatte sehr schnell gesagt, nun ja, wenn es … ähm … nur um einen … ähm … kleinen Behälter gehe, nicht um einen Sarg, dann lasse sich vielleicht ein Platz »zwischen den Reihen« finden.
    Und da waren sie nun, Veronica, die Anthony an ihren Busen drückte, Lloyd, in schwarzem Kaschmirmantel mit rotem Kaschmirschal, und der Pfarrer mit Gebetbuch in der Hand, der in seinem Baumwollchorhemd ein klein wenig bibberte.
    »Soll ich beginnen?«, fragte der Pfarrer ergeben. »Sind Sie bereit?«
    »Ja«, entgegnete Veronica. »Bitte beginnen Sie.«
    In der kühlen, aber sonnigen Luft erklangen die vertrauten Worte. »… Der Mensch, vom Weibe geboren, lebt kurze Zeit … geht auf wie eine Blume und fällt ab, flieht wie ein Schatten … Erde zu Erde und Asche zu Asche … «
    Die Stimme des Pfarrers war weich, nicht unangenehm. In der leichten Brise konnte Veronica tatsächlich Asche riechen : Blätter und Zweige, die in einem Gartenfeuer zu Staub undRauch vergingen. Und sie dachte: All dies hier erscheint mir richtig. Hier haben Anthony und ich unseren Anfang genommen. Das hier ist Heimat.
    Doch dann, als der Augenblick kam, da sie die Urne in das feuchte Loch stellen sollte, konnte sie es nicht, sie konnte sie nicht hergeben. Lloyd und der Pfarrer warteten schweigend und mit gesenktem Haupt. Sie drückte die Plastikurne an sich. Sie musste immerfort denken: Ich habe ihn auch geliebt. Er gehört auch mir, nicht nur Lal …
    Mit ausgestrecktem Arm hielt sie die Urne jetzt vor sich, und die Sonne fiel auf den Deckel, der mit einem kupferfarbenen Lack gestrichen war, und er glänzte wie poliert, wie eine altmodische Kasserolle. Sie sah, dass Lloyd den Kopf hob und erst auf die Urne und dann in ihr Gesicht blickte.
    »Anthony«, sagte sie mit möglichst fester Stimme, »jetzt kommt das, was du als einen ›entsetzlichen Augenblick‹ bezeichnet hättest. Loslassen. Doch ich werde es tun. Und wenn ich es recht bedenke, hätte ich es wohl besser schon vor vielen, vielen Jahren tun sollen, doch ich tat es nicht. Ich habe dich zu sehr geliebt.«
    Sie hielt inne. Sie wusste, dass ihre Stimme in dieser Stille seltsam laut klang.
    »Du bist in Netherholt«, fuhr sie fort. »Okay, Liebling? Ich weiß, du kannst es weder sehen noch fühlen. Ich weiß, du bist in Wirklichkeit nirgendwo. Aber dies war der Ort, wo du gern sein wolltest. Die Buche steht immer noch. Und die Sonne scheint. Und ich setze dich nieder zu Lals Füßen. Mehr konnten wir nicht möglich machen. Ich glaube nicht, dass du etwas dagegen hast. Vermutlich erinnerst du dich viel besser als ich daran, dass Ma immer absolut umwerfende Schuhe trug …«
    Eigentlich hatte Veronica noch fortfahren und etwas Bedeutsameres sagen wollen, doch sie stellte fest, dass sie hier aufhören musste, und dann kniete sie nieder und setzte die Urne ins Loch. Sie bemerkte, dass Lloyd Palmer neben ihr weinte. Erschneuzte sich laut, nahm eine Handvoll feuchter Erde und warf sie auf Anthonys Urne.
    »Leb wohl, alter Kumpel«, sagte er.

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