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Der unausweichliche Tag - Roman

Der unausweichliche Tag - Roman

Titel: Der unausweichliche Tag - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Suhrkamp-Verlag <Berlin>
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Willen, der genauso hart und schwarz sein konnte wie der Panzer eines Skorpions.
    »Bringt mich nach Hause!«, kreischte sie. »Bringt mich nach Hause!«
    »Ma chérie« , sagte ihre Mutter, »dies ist jetzt dein Zuhause …«
    Nein, das stimmte nicht. Es stimmte nicht. Es war nicht ihr Zuhause . Es würde niemals ihr Zuhause sein. Es würde sie nie beschützen.
    »Ich will nach Hause, in mein Zuhause !«, schrie sie noch lauter und rasender und versuchte immer noch, ihre Eltern zu boxen und zu treten und mit dem Kopf zu stoßen.
    » Mon dieu , Mélodie, jetzt reicht’s …«
    Es reichte nicht. Nichts würde jemals ausreichen. Jedenfalls nicht, solange sie nicht alles wiederhatte: ihr Zimmer mit seinem weichen, weißen Teppich und der blauweißen Tapete mit dem Muster aus Schäferinnen und flauschigen blauen Schäfchen. Und ihren Schulweg, vom Blumenladen und der Pâtisserieund dem Optiker an der Ecke bis zum Schultor, wo ihre Freundinnen – ihre richtigen Freundinnen – auf sie warteten. Bis dahin, bis sie all das wiederbekam, würde alles, was sie tat, um ihre Eltern zu bestrafen, nicht ausreichen.
     
    Eines Nachmittags kam Jeanne Viala.
    Mélodie lag auf dem Sofa und sah fern. Sie hielt sich ihre Barbiepuppe an die Oberlippe, und das Gefühl von Barbies seidigem Haar an ihrer Haut hatte sie in eine Art erschöpften Halbschlaf gelullt. Doch als ihre Mutter Jeanne Viala in das Zimmer führte, als Mélodie sie sah – die einzige Person, von der sie an dieser Schule gemocht wurde, die Person, die sie in ihren Armen vom Fluss weggetragen hatte –, da warf sie ihre Puppe fort, stand auf, rannte zu ihr und presste ihren Kopf an Jeannes Brust.
    Jeanne umarmte sie und drückte sie fest an sich. Die Mutter des Kinds schlüpfte aus dem Zimmer. Mélodie begann zu weinen, aber es war nicht dieses Weinen, bei dem sie immer wütender wurde; es war ein Weinen, das ihr guttat, als würde sie eine Medizin schlucken, die sich nicht beschreiben ließ. Und dann merkte das Kind, dass Jeanne ebenfalls weinte, und es begriff, dass es genau so sein musste, dass sie einander halten und so lange weinen mussten, bis sie keine Tränen mehr hätten.
    Schließlich wischte Jeanne Mélodies Tränen fort und auch ihre eigenen, und sie setzten sich auf das Sofa, und Jeanne hob die Puppe auf und strich ihr goldenes Haar glatt.
    »Ich bin gekommen«, sagte sie nach einer kleinen Weile, »um dich zu fragen, ob du vielleicht einmal mit mir nach Avignon fahren möchtest. Es ist eine große Stadt. Eine schöne Stadt, mit ganz, ganz vielen Menschen, fast wie Paris, und sie ist gar nicht so weit weg.«
    Mélodie nickte. Sie hatte gar nicht gewusst, dass es überhaupt Städte in der Nähe gab. Sie hatte geglaubt, um Ruasse herum würde es kilometerweit nur Steine und Bäume und Flüsse und Fliegen geben.
    »Ich habe mir gedacht, dass wir uns ein Nachmittagskonzert anhören«, sagte Jeanne. »Ich weiß, dass du Geige gespielt hast – und das wirst du auch wieder, weil ich einen Lehrer für dich suchen werde. Hast du Lust, mit mir ins Konzert zu gehen?«
    »Ja«, sage Mélodie.
    »Gut. Dann besorge ich Karten. Und nach dem Konzert, da dachte ich … falls du möchtest … könnten wir uns ein hübsches Café suchen und Kuchen essen und Schokoladenshakes trinken. Nur wir beide. Du und ich. Wenn deine Eltern das in Ordnung finden. Was hältst du davon?«
    Mélodie streckte die Hand aus und nahm Jeanne Viala ihre Puppe ab und drückte Barbies goldenes Haar noch einmal an ihre Lippe.
    »Wann fahren wir?«, fragte sie. »Können wir morgen fahren?«

A n einem Nachmittag im Oktober stand Veronica auf dem Friedhof der St. Annen-Kirche in Netherholt, Hampshire. In der Hand hielt sie in einer Plastikurne Anthonys Asche.
    Es war einer jener seltenen Sonnentage, an denen die Landschaft im Süden Englands die schönste der Welt zu sein scheint. Der Friedhof war von einer dunklen Eibenhecke eingefasst. Nach Osten hin stand etwas außerhalb vom Friedhof eine alte, majestätische Buche, die Veronica schon seit ihrer Kindheit kannte. Im strahlenden Sonnenlicht funkelten ihre Blätter bernsteinfarben. Hinter der Kirche lag eine saftige Wiese, auf der zwei braune Pferde grasten.
    Jetzt stand Veronica zwischen den beiden Männern, die sie kaum kannte: dem Pfarrer von Netherholt und Anthonys Freund und Testamentsvollstrecker Lloyd Palmer. Alle drei starrten stumm auf Lal Vereys Grabstein, den Anthony einst hatte setzen lassen.
     
    Lavender Jane (Lal) Verey
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