Der unausweichliche Tag - Roman
Limonade in dem Krug war, oder manchmal auch sirop de menthe , ganz selten aber auch, vielleicht ein- oder zweimal im Jahr, war der Krug, aus Gründen, die Audrun unerfindlich blieben, mit Apfelwein gefüllt. Und wenn sie ihn tranken, wurde die ganze Welt auf einmal schön.
D ie kleine Mélodie lag in ihrem Zimmer.
Das ist nicht mein Zimmer, dachte sie. Nicht mein richtiges Zimmer. Mein Zimmer ist in Paris. Aus meinem Fenster konnte ich sogar noch die Spitze vom Eiffelturm erkennen. Manchmal bin ich um Mitternacht aus dem Bett gestiegen, um ihn leuchten zu sehen.
Mélodies Mutter saß an ihrem Bett und hielt ihre Hand. Sie erklärte, morgen würden sie zu einer Beraterin gehen, und diese Beraterin werde ihr helfen, das, was am Fluss geschehen sei, aufzuarbeiten.
»Ich weiß nicht, was ›aufarbeiten‹ bedeutet«, sagte Mélodie.
»Es bedeutet, dass du es mit der Zeit vergessen wirst«, erklärte ihre Mutter.
»Nein«, sagte sie. »Ich werde es nie vergessen.«
Die Beraterin hieß Lise und war eine ruhige vierzigjährige Frau.
Lise hatte ein kleines Zimmer über einer Arztpraxis in Ruasse. Sie saß still auf ihrem Stuhl und hielt die Hände im Schoß gefaltet. In Lises Gegenwart, fern von Mutter und Vater, fand Mélodie es in Ordnung, wütend zu sein. Sie erzählte Lise, wie man sie aus dem, wie sie es nannte, »schönen Leben« gerissen und in dieses andere Leben gesteckt hatte, das ekelhaft war und wo man die meiste Zeit die Augen zumachen musste, weil es so viele Dinge gab, die man nicht sehen wollte.
»Welche Dinge möchtest du nicht sehen?«, fragte Lise.
»Insekten«, sagte Mélodie.
»Ja. Was noch?«
»Alles«, sagte das Kind. »Alles. Ich möchte alles nicht sehen!«
Lise ließ Raum für ein langes Schweigen. Vor dem Fensterhing eine Jalousie, und Mélodie bemerkte, dass die Sonne in seltsam zittrigen Streifen auf den Fußboden fiel, und sie dachte: Auch das ist verkehrt. Nichts ist hier, wie es sein sollte.
»Mélodie«, sagte Lise am Ende der Schweigepause, »siehst du manchmal den Körper des Mannes im Fluss?«
»Es war kein Mann«, sagte Mélodie, »es war nichts.«
»Ich glaube, es war ein Mann. Ein toter Mann.«
»Nein!«, schrie das Kind, »es war nichts! Es war nur ein Ding , wie eine tote Schlange. Es war ganz weiß und schleimig. Es war eine Riesenseidenraupe!«
Mélodie begann zu weinen. Sie verbarg ihr Gesicht in den Händen.
Lise saß sehr still auf ihrem Stuhl. Sie sagte behutsam: »Der Mann, den du gesehen hast, ist umgebracht worden. Jemand hat ihn erschossen. Menschen sterben in dieser Welt. Das ist schrecklich, aber so ist es, und wir müssen es akzeptieren. Manchmal sterben sie gewaltsam, so wie diese Person. Aber dann, danach, ruhen sie in Frieden. Und er hat jetzt seinen Frieden, der Mann, den du im Fluss gesehen hast. Er ruht in absolutem Frieden. Und ich möchte gern, dass du dir diesen Frieden vorzustellen versuchst, Mélodie. Was glaubst du? Wie fühlt er sich wohl an?«
Mélodie konnte nicht antworten. Wörter wie »Frieden« sagten ihr nichts.
In ihrem eigenen Kopf herrschte der blanke Horror. Er war so vollgestopft damit, dass ihr demnächst der Schädel platzen würde, und dann würde Zeug herausquellen und ihr in den Nacken und übers Gesicht laufen, und dann würden die Kinder in der Schule ihre Finger in dieses Zeug stecken und weglaufen und so tun, als müssten sie sich übergeben.
Igitt! Du bist eklig, Mélodie!
Guck mal, dein Kopf, Mélodie. Da kommt Kacke aus deinem Gehirn.
Lise beugte sich vor und reichte Mélodie ein Papiertaschentuch.
Das kleine Mädchen zerknüllte das Tuch in der Hand und warf es auf den Boden. Sie wischte sich die Tränen und den Rotz mit den Händen weg und streckte Lise die Hände hin.
»So sieht jetzt alles aus«, sagte sie. »So wie diese merde .«
Sie weigerte sich, zur Schule zu gehen.
Sie hörte ihre Eltern am frühen Abend miteinander darüber flüstern.
»In ihrem Alter macht das noch nichts.«
»Es ist sowieso schon fast Halbjahrsende.«
»Beten wir, dass sie im September wieder normal ist.«
Sie lief in die Küche mit den Wänden aus Stein, wo sie standen und Wein tranken – sie tranken ihren Wein, als wäre nichts geschehen. Mélodie rannte zu ihnen und schlug ihren Vater mit den Fäusten. Das langstielige Glas flog ihm aus der Hand und zersprang auf dem gefliesten Boden. Ihre Mutter versuchte sie festzuhalten, aber Mélodie riss sich los, bearbeitete beide Eltern mit ihren Fäusten und mit ihrem
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