Der unausweichliche Tag - Roman
wünschen konnte, in die Hände gelegt: mehr, als sein angeschlagener Körper tragen konnte.
Audrun und Verey gehen durch das Eschenwäldchen, in dem die Blätter schon gelb werden und im Wind trudeln. Verey fragt Audrun, ob sie etwas dagegen hätte, wenn er – sobald das Mas erst einmal ihm gehörte – eine schnell wachsende Zypressenhecke vor ihre Kate pflanzen würde.
Eine schnell wachsende Zypressenhecke.
Genau das, was sich ein Mann ausdenkt, der das ausblenden möchte, was er nicht sehen will …
Audruns Griff um den Gewehrschaft wird fester. Sie sagt liebenswürdig: »Ich weiß, was Privatheit bedeutet, Monsieur Verey. Es gibt nichts Kostbareres. Ich verstehe das ganz besonders gut.«
Der Engländer nickt und lächelt. Audrun ist aufgefallen, dass viele der Britanniques in Ruasse grob und vulgär sind, aber Verey ist ein höflicher Mann. Und er möchte einen prächtigen Garten anlegen, versucht er ihr zu erklären. Seine Schwester wird ihm dabei helfen, seine bewunderte Schwester, die von Beruf Gartenarchitektin ist. »Das wird mein letztes Projekt sein«, sagt er, » ma dernière … chose …«
»Ja«, sagt sie ohne Begeisterung. »Es ist schön, auf etwas in der Zukunft hoffen zu können.«
Seite an Seite gehen sie zum Fluss hinunter, erst über die untere Weide, dann am undurchdringlich zugewucherten Flussufer entlang bis zu einer etwa hundert Meter entfernten Stelleweiter östlich, wo ein schmaler Pfad aus Feldsteinen ans Wasser führt. Dieser Pfad, der dort auf den Fluss trifft, wo dieser ein tiefes Becken bildet, sei ein Geheimnis, erklärt Audrun Verey. Vor langer Zeit habe ihr Vater Serge ihn angelegt. Nur für sich allein, aber manchmal habe er sie auch mitgenommen … Er habe die schweren Steine, einen nach dem anderen, mit den bloßen Händen hergeschleppt und in die Erde gedrückt.
»Geschichte …«, sagt Verey. »Die Region steckt voller Geschichte.«
»Ja«, sagt sie. »Sie haben Recht, Monsieur. Wir vergessen nur schwer.«
Einen Moment lang folgt jetzt Dunkelheit, Leere.
Dann starrt, wie durch einen langen, stillen Tunnel, das Gesicht von Verey – mit seinen blauen Augen, den sonnenverbrannten Lippen – Audrun stumm an. Er wirkt nicht überrascht. Sein Mund öffnet sich nicht zum Schrei. Fast scheint es, als habe er schon akzeptiert, was geschehen wird, als flüstere er leise zu sich selbst: Das war’s also. So also sieht das Ende aus …
Verey fällt nach hinten. Blut spritzt in alle Richtungen, und die purpurnen Tropfen hängen in der sonnendurchfluteten Luft. Es sieht fast schön aus.
Dann liegt er im Wasser, nur seine Beine ragen noch auf den kleinen Kiesstrand. Von diesem Anblick kann Audrun sich kaum losreißen. Er begeistert sie. Das grenzt, denkt sie, fast an Vollkommenheit.
Sie legt die Flinte beiseite und geht langsam zu der Leiche. Sie bückt sich und zieht Vereys Autoschlüssel aus seiner Hosentasche und legt ihn sorgsam auf einen flachen Stein. Alles um sie herum ist plötzlich ganz still.
Blut fließt ins Wasser; frei schwebende Schwaden aus Blut treiben mit der gurgelnden Strömung davon.
Absolute Vollkommenheit.
Sie zieht ihren Kittel, ihren Rock, ihre Bluse und ihre Schuheaus. Dann legt sie züchtig ihre hübsche weiße Baumwollunterwäsche ab (kein hässliches rosafarbenes Zeug aus Schwefelkohlenstoff von der alten Fabrik in Ruasse!) und geht nackt ins Wasser. Sie trägt nur noch die grünen Handschuhe. Sie zieht Vereys Leiche zu sich heran. Sie schwimmt auf dem Rücken und umfasst den Mann mit ihrem Arm, als wollte sie ihm das Leben retten.
Jetzt schwimmt sie in dem tiefen Becken, wo sie als Kind gespielt hat, während Bernadette ihre Wäsche auf die Steine schlug. Die Kälte ist süß und rein. Und sie weiß, dass auf dem Grund des Wasserbeckens – wenn man bis dorthin zu tauchen wagt, wo fast kein Licht mehr ist, wo Gräser wie plattgedrückte Aale im Flussbett hin und her schwingen – eine Felshöhle ist, in die sie, an sehr heißen Tagen, immer einen schweren Keramikkrug zwängte, einen Krug aus den poteries von Anduze, einen Krug, der fast kugelförmig war, aber nicht ganz.
Audrun holt tief Luft und taucht. Sie nimmt die Leiche in ihren Armen mit nach unten. Sie tastet nach dem Loch im Felsen.
Als sie Vereys Kopf in die Höhlung presst und hört, wie der Schädel knackt, als er am Stein entlangschrammt, als sie den Hals immer wieder mit langen Unkrautwedeln umwickelt, die sie mehrmals verknotet, fällt ihr wieder ein, dass gewöhnlich
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