Der unausweichliche Tag - Roman
»Gute Reise.«
Veronica und Lloyd gingen über den Friedhof zu der Wiese, wo die Pferde grasten. In der Ferne, jenseits der Talsenke, verdunkelten Regenwolken den Himmel. Lloyd und Veronica lehnten sich an den Holzzaun. Dann streckte Veronica plötzlich, wie selbstverständlich, den Pferden die Hand hin, und sie hoben sofort die Köpfe.
Sie standen still, spitzten die Ohren und blickten zu Veronica. Sie liebte solche Momente, wenn sie stumm mit einem Pferd sprach und es zuzuhören schien. Und jetzt bewegten sich die beiden, trotteten langsam über das hell glänzende Feld, und als die Tiere näher kamen, nahm sie ihren Geruch wahr – den Geruch lebendiger Pferde, der für Veronica Verey tröstlicher war als jeder andere Geruch –, und sie war hingerissen.
»Brave Mädchen«, sagte sie. »Prachtvolle Mädchen …«
Sie zog ihre schwarzen Handschuhe aus und berührte die harten, warmen Köpfe der rotbraunen Pferde, rieb und streichelte die beiden Nasen im Wechsel. Zuerst zitterten sie kaum wahrnehmbar, fürchteten noch die fremde Person. Dann spürte Veronica, wie ihre Angst verflog, und sie kamen noch näher, und ein Tier legte seinen Kopf auf ihre Schulter, und Veronica schlang einen Arm um seinen Hals.
»Du lieber Gott«, sagte Lloyd. »Liebe auf den ersten Blick!«
Veronica lächelte. »Mit Pferden konnte ich schon immer«, sagte sie. »Als Kind habe ich mein Pony Susan mehr geliebt als meine Mutter.«
»Glaub ich gern«, sagte Lloyd.
Dann putzte er sich erneut die Nase, steckte das Taschentuch weg und fragte: »Und was werden Sie jetzt tun, Veronica?«
»Tun? Meinen Sie, mit dem Rest meines Lebens?«
»Ja. Ich weiß, dass es mich nichts angeht, aber Sie erben demnächst ziemlich viel Geld, wenn erst einmal das Testament beglaubigt ist …«
Veronica stand ganz still, streichelte die Pferde und genoss die Wärme, den Atem der Tiere an ihrem Hals. Sie fragte sich, ob sie wohl nach so langer Zeit das Reiten wieder erlernen würde.
»Ich weiß nicht …«, sagte sie. »Ich habe mich nie richtig leidenschaftlich für irgendetwas begeistert. Außer für Gärten. Und Pferde.«
Sie blickte in den Himmel. Noch schien die Sonne hier auf Netherholt, aber weiter hinten im Tal fiel schon Regen, und sie fand es sehr schön, dieses direkte Nebeneinander von Sonne und Regen.
»Ich dachte, ich sei glücklich in Frankreich«, sagte sie. »Aber jetzt, nach allem, was geschehen ist … weiß ich nicht, ob ich es wirklich war. Ich glaube, ich habe es mir nur vorgemacht.«
»Glück«, sagte Lloyd mit einem Seufzer. »Darüber haben Anthony und ich uns an unserem letzten gemeinsamen Abend unterhalten. Dass es fast unmöglich ist, das Glück für mehr als fünf Minuten festzuhalten. Er erzählte mir, er sei wohl nur einmal in seinem Leben wirklich glücklich gewesen.«
»Ja? Als Baby? Weil er an Mas Brust trinken durfte?«
»Beinah. Er sagte, er hätte ein Baumhaus gebaut …«
»Ah, das Baumhaus! Und er lud Ma zum Tee?«
»Ja. Er sagte, das sei der vollkommenste Nachmittag seines Lebens gewesen.«
Veronica begann, das Ohr des Pferds zu streicheln, dessen Kopf immer noch auf ihrer Schulter ruhte.
»Hat er das gesagt?«, fragte sie.
»Ja. Er sagte, alles sei absolut wundervoll gewesen.«
»Ach? Tja, wissen Sie, Lloyd, in Wirklichkeit war es das nicht. Es war nicht wundervoll. Der Tee mag perfekt gewesen sein – bestimmt hatte Mrs. Brigstock ihn gekocht. Und Anthonyund Ma mögen sich da oben im Baum auch nett unterhalten haben. Aber dann zum Schluss, als sie die Leiter wieder hinabstieg, rutschte Ma ab und stürzte. Dabei verletzte sie sich den Rücken sehr schwer. Und von da an hatte sie immer Schmerzen. Bis zu dem Tag, als sie starb. Der Schmerz war immer da. Vielleicht kam auch ihr Krebs daher.«
Lloyd schlang einen Knoten in seinen teuren Schal, als fröre ihn plötzlich.
»Diesen Teil der Geschichte hat Anthony einfach ausgeblendet«, fuhr Veronica fort. »Er hat ihn buchstäblich vergessen. Wenn man ihn doch einmal daran erinnerte, behauptete er stets, da irre man sich. Er schaffte es, sich einzureden, dass Lals Sturz an einem anderen Tag stattgefunden habe – an einem anderen Ort. Weil er den Gedanken, dass er in irgendeiner Weise dafür verantwortlich sein könnte, nicht ertrug.«
Lloyd und Veronica fuhren mit Lloyds silbernem Audi zurück nach London. Die graue Autobahn schimmerte im Regen.
Überwältigt von einer unendlichen Müdigkeit lehnte Veronica den Kopf gegen das weiche schwarze
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