Der unausweichliche Tag - Roman
beiseite. Bei dem Gedanken an einen Jungen – irgendeinen Jungen – in seinem Bett fühlte er sich müde. Für seinen Körper war es schwierig genug, mit den ganz gewöhnlichen Dingen des Alltags zurechtzukommen. Das Kreuz tat ihm weh vom stundenlangen Sitzen in seinem Laden. Schon von einem Fußmarsch bis Knightsbrigde bekam er wunde Füße. Seine Augen waren so schnell schwächer geworden, dass er seine eigenen Preisschildchen kaum noch lesen konnte, selbst mit der Brille nicht. Wieso um Himmels willen kam er dann auf die Idee, er könnte plötzlich in Ekstase geraten, könnte von der Liebe überrascht werden?
Er kam deshalb auf diese Idee, weil er irgendetwas finden musste, das es ihm ermöglichte, weiterzumachen, durchzuhalten. Und womit ließe sich die Zukunft besser ausstaffieren als mit irgendeiner Art von Liebe?
Anthony rieb sich die Augen, goss sich ein Glas trockenen Sherry ein und nahm einen Schluck. Er stand auf und wanderte in dem fast vollständig dunklen Raum zwischen seinen Lieblingen umher. Er streichelte sie im Vorübergehen, streckte die Hand immer wieder aus. Er wusste, dass er sich im Moment keine irgendwie geartete Zukunft ausmalen konnte. Alles, waser vor sich sah, alles, was ihn – den einst gefeierten Anthony Verey – erwartete, war ein langsamer und einsamer Niedergang.
Er dachte an Lals Grab in Hampshire und an die Buche in dessen Nähe. Er sehnte sich nach dem Klang von Lals Stimme, nach dem Gefühl eines gewissen silbernen Tortenhebers an seiner Wange.
Er verweilte bei dem goldgerahmten Stich eines italienischen Gartens (» Li Giardini di Roma , eine der 30 Tafeln von de Rossi nach den Originalen des Giovanni Battista Falda, 1643-1678«). Er starrte lange auf die adretten Alleen, die ordentlich angelegten Gärten und die glücklichen sepiafarbenen Menschen, die dort, vor sanften Hügeln im Hintergrund, heiter lustwandelten.
»V«, sagte er laut. »Ich brauche Hilfe. Und ich fürchte, du, mein Herz, wirst es sein, die mich retten muss.«
V eronica Verey war Gartenarchitektin. Ihr jüngstes, noch nicht abgeschlossenes Projekt war ein Buch über Gärten in Südfrankreich. Der Arbeitstitel des Buches lautete Gärtnern ohne Regen .
Veronica wohnte mit ihrer Freundin Kitty in einem schönen alten Feldsteinbauernhaus namens »Les Glaniques«, in einem jener Dörfer südlich von Anduze in der Region des Gard, wo das 21. Jahrhundert bisher noch nicht angekommen zu sein schien und wo Veronica ihr Leben in einer gewissen robusten Zufriedenheit lebte. Sie wurde allmählich dick (in ihren Mädchenzeiten hatte man beide, sie und ihr Pony Susan, als »stämmig« bezeichnet), aber das störte sie ebenso wenig wie Kitty. Sie gingen einfach gemeinsam auf den Markt in Anduze und kauften sich Sachen, die eine Nummer größer waren.
Kitty, das einzige Kind trauriger Eltern, die ihr Leben lang versucht hatten, an der Küste von Norfolk ein Gästehaus in Schwung zu bringen, war Aquarellmalerin, konnte damit jedoch kaum ihren Lebensunterhalt bestreiten und brachte sich, hingerissen vom Licht in diesem Teil Südfrankreichs, jetzt das Fotografieren bei. Kitty hoffte, das gesamte Bildmaterial für Veronicas Werk beisteuern zu können. In ihren Tagträumen sah sie schon den aufregenden Buchumschlag, mit ihren beiden Namen nebeneinander:
GÄRTNERN OHNE REGEN
von
Veronica Verey und Kitty Meadows
Kitty hatte das Gefühl, dass sie viele Jahre so etwas wie ein Niemand gewesen war, ein wässeriges Nichts, bis sie Veronica begegnete. Ihre stille Zurückhaltung und ihre Selbstverleugnung waren Wesenszüge, die aus ihrer Kindheit stammten, als mansie ständig anhielt, sich bloß nicht vor den Gästen zu zeigen. Erst jetzt, mit Ende fünfzig, nahm sie sich selbst wahr. Sie liebte Veronica, und Veronica liebte sie, und gemeinsam hatten sie das Haus gekauft und ihren außergewöhnlichen Garten angelegt, und deshalb hatte Kitty Meadows nun das Gefühl, als fange sie noch einmal von vorn an und fange es diesmal besser an. In einem Alter, in dem viele ihrer Freunde längst klein bei- oder aufgegeben hatten, versuchten Kitty und Veronica einen neuen Start.
Das Haus lag einen knappen Kilometer vom Dorf Sainte-Agnès-la-Pauvre entfernt. Von der Westterrasse sah man die Cevennen mit ihren herrlichen blaugrünen Faltungen, dem Baumbestand, so dicht wie Regenwald. Die Augenblicke, die sie auf dieser Terrasse verbrachte, Wein und Oliven genoss, den Schwalben zuhörte und in den blendenden roten Sonnenuntergang
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