Der unausweichliche Tag - Roman
durchbrochenen silbernen Tortenheber an die Wange zu pressen, die raffinierte silberne Spargelzange zu öffnen und zu schließen. O ja, und die Großvateruhr in der Diele schlagen zu hören (»William Muncaster, Whitehaven, 1871). Ihre Gongschläge verband er für immer mit seinen Schulferien – entweder mit einem weißen Weihnachtsbaum im Dezember oder mit einer Vase voller Wicken im Juli und einer langen, seligen Zeit ohne Latein und Rugby. Lal beobachtete ihn immer, wenn er die Uhr schlagen hörte, betrachtete ihn mit ihren himmelblauen Augen und berührte sein Gesicht mit der Hand, die im Silberputzhandschuh steckte. »Ich finde es so entzückend«, sagte sie oft, »wie du die Muncaster liebst.«
Dann lächelte er und schlug ein weiteres Lied vor, damit sie nicht merkte, dass er gleich würde kichern müssen, weil sie, die aus Südafrika nach England gekommen war und immer noch mit einem Akzent sprach, der die Vokale flach klingen ließ und zahlreiche Wörter eigenartig, fast peinlich verzerrte, das Wort »entzückend« benutzte.
Anthony glaubte, dass Lal seine Sehnsucht, wieder ein Kind zu sein, verstanden hätte. Denn er erinnerte sich, wie sie in den letzten fünfzehn Jahren ihres Lebens mit den Gedanken ziemlich häufig nach Hermanus zurückgekehrt war, wo ihre Eltern eine Villa mit Blick aufs Meer besessen hatten und wo die Mahlzeiten im südafrikanischen Sommer auf einer riesigen Veranda von schwarzen Dienern (»houseboys«) serviert worden waren. Sie hatte Anthony anvertraut, inzwischen habe sie England, ihre Adoptivheimat, zwar auch lieben gelernt, »aber ein Teil von mir ist in Südafrika geblieben. Ich kann mich noch an die afrikanischen Sterne erinnern. Ich erinnere mich an die Zeit, als ich kleiner war als eine Cannalilie.«
Anthony saß an seinem Schreibtisch, während sich langsam die Dämmerung über Chelsea senkte, und starrte auf sein Adressbuch. Er überlegte, ob er heute Abend wohl mutig genug sein würde, um einen der »Knaben« anzurufen. Ohne Begeisterung blätterte er in den Seiten des Büchleins, las Namen und Telefonnummern: Micky, Josh, Barry, Enzo, Dave …
Sie reizten und lockten ihn. So hungrig, kraftvoll und wild, wie sie alle waren, schienen sie ihm lebendiger, als er jemals gewesen war. Der Letzte, mit dem er sein Bett geteilt hatte, war der Italiener gewesen, Enzo mit den ernsten Augen und dem reizenden Schmollmund. Er hatte ein teures Hemd getragen, aber seine Schuhe waren staubig und abgelaufen. Er hatte seinen Schwanz vorgeführt, ihn zur Bewunderung präsentiert , ihn wie ein dickes Tau in den Händen gehalten, als böte er ihn auf einer Auktion an.
Dann hatte der Knabe Anthony Schweinereien ins Ohr geflüstert, eine endlose, leise, pornografische Litanei. Anthony hatte zugehört und zugeschaut. In seinem Schlafzimmer herrschte gedämpftes bernsteinfarbenes Licht, und der Körper des Knaben wirkte seidig und golden, genau so, wie es Anthony gefiel, mit einem fetten, fast weibischen Hintern.
Er legte die Arme um Enzo. Er berührte seine Brustwarzen, streichelte seine Brust. Und schon spürte er es, das erste heiße Verlangen, doch dann wechselte der verdammte Monolog über ins Italienische und sagte Anthony gar nichts mehr, irritierte ihn nur noch, und er befahl Enzo, aufzuhören, aber der Junge hörte nicht auf, er war eine Diva der Schweinereien, ein Pornografieverkäufer, und er machte immer weiter.
Die Dinge, die wir tun …
Die verzweifelten Dinge …
Enzo lag auf dem Bett. Anthony kniete. Er war immer noch nicht hart. Aber er dachte, der fette Arsch würde es schaffen, wenn er sich darauf konzentrierte, ihn streichelte und knetete, das Fleisch teilte … Aber nein, was er plötzlich nur noch ganzdringend wollte, war, ihn schlagen. Den italienischen Jungen verletzen. Sich selbst verletzen. Weil es so mies, so jämmerlich war, dieses Herbeischaffen von Jungen – nur, weil er sich selbst beweisen wollte, dass er als Mann noch lebendig war. Es war lächerlich. Er entfernte sich vom Bett, zog seinen Morgenmantel über, sagte zu Enzo, er solle aufstehen und gehen. Bezahlte ihm die verabredete Summe, steckte sie in die Tasche von Enzos Lederjacke, und der Junge verließ das Zimmer, schmollend und beleidigt. Anthony hatte später lange in seiner Küche gesessen, hatte regungslos dagesessen und auf das Summen des Kühlschranks und den Straßenverkehr gehorcht und gemerkt, dass er nichts fühlte; gar nichts außer Zorn.
Jetzt legte er das Adressbüchlein
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