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Der unausweichliche Tag - Roman

Der unausweichliche Tag - Roman

Titel: Der unausweichliche Tag - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Suhrkamp-Verlag <Berlin>
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der Tochter von Bernadette Lunel, die zwischen der dünnen Decke und der harten Krankenhausmatratze eingeklemmt lag. Weil sich in ihr drinnen alle Venen und Arterien entleerten, würde sie von Minute zu Minute dünner und platter werden. Und so bleich wie eine Seidenraupe.
     
    Als sie aufwachte, war ihr Arm mit einem Beutel voll Blut verbunden, und eine kühle Hand lag auf ihrer Stirn – Bernadettes Hand. Bernadette beugte sich zu Audrun herunter und sagte: »Jetzt ist alles gut, mein kleines Mädchen. Es ist alles gut. Jetzt bin ich da. Maman ist da. Du hast nichts zu befürchten.«
     
    Audrun und Marianne wanderten zurück, und als die Kate wieder in Sicht kam, blieb Marianne stehen, blickte in die Richtung und sagte: »Ich habe eine andere Idee. Lass Raoul kommen und eine Mauer bauen.«
    »Wozu soll eine Mauer gut sein?«
    »Eine hohe Steinmauer. Wer immer das Mas kauft, kann dann dein Haus nicht sehen, und du musst diese Leute nicht sehen.«
    »Das kann ich mir doch gar nicht leisten.«
    »Auf deiner Seite könnte man billige Hohlblocksteine nehmen und auf der anderen Seite, da, wo die Leute hinsehen, Feldsteine davorsetzen.«
    »Auch dann. Woher soll ich das Geld nehmen?«
    Marianne drehte sich um und sah zurück zu dem Weg, den sie gekommen waren. »Verkauf den Wald«, sagte sie.
    Den Wald verkaufen?
    Audrun schüttelte heftig den Kopf, schüttelte ihn immer weiter, wie eine Marionette. Sie fühlte sich ganz schwach und wackelig von all dem hässlichen, verdorbenen Denken.
     
    Später lag sie im Dunkeln.
    »Sicher in deinem Bett«, hatte Bernadette immer gesagt, »jetzt bist du sicher in deinem Bett.« Aber Bernadette hatte sich geirrt.
    Sie versuchte sich zu erinnern: War ihr Haus vielleicht doch zum Teil auf Aramons Land errichtet worden?
    Sie konnte sich nur noch daran erinnern, wie hastig es hochgezogen worden war, irgendwie schlampig, bloß mit einer hingekritzelten Erlaubnis vom Büro des Bürgermeisters, ohne ordentliche Entwürfe, nur nach Zeichnungen, die der Bauunternehmer gemacht hatte: Stellt das hierhin, stellt das dahin. Eigentlich hätte Raoul das Haus bauen sollen, aber er wollte den Auftrag nicht; er arbeitete nur mit richtigen Steinen.
    Deshalb kam eine andere Firma aus Ruasse, und die entschiedenimmer von Tag zu Tag, jeweils aus der Situation heraus – damals, als die Männer in der Sonne saßen, Brot und Camembert aßen, Bier tranken und manchmal einen kurzen Blick auf diese oder jene Zeichnung warfen. Einmal hatten sie sogar ihren restlichen Käse in eine der Zeichnungen gewickelt, weil sie angeblich nicht mehr gebraucht wurde.
    Es war doch niemals ein Landvermesser erschienen, um das fertige Haus abzunehmen – oder? Es war niemand erschienen, weil es niemanden auch nur im Geringsten interessierte. All dieses Land gehörte der Lunel-Familie – hatte ihr seit drei Generationen gehört. Es wäre an Bruder und Schwester gewesen, irgendwelche Grenzlinien zu ziehen …
    Aber jetzt würde ein Landvermesser kommen. Selbst eine Mauer aus Stein konnte niemanden fernhalten, jedenfalls keinen, der glaubte, er habe ein Recht, dort zu sein. Sie, Audrun, würde hilflos danebensitzen und darauf warten, dass der Landvermesser mit seinem stählernen Maßband eine Linie zog. Und wenn diese Linie nun in ihr Haus hineinführte und an der anderen Seite wieder hinaus, was dann? Würde sie hören müssen, wie jemand ihr erklärte – so wie man es ihr das ganze Leben lang erklärt hatte –, sie habe sich geirrt?
    Du machst alles verkehrt, Audrun.
    Du siehst die Welt nicht, wie sie ist.
    Audrun lag auf dem Rücken und starrte in die Dunkelheit. Sie legte die Arme dicht an ihren Körper, schloss die Augen und versuchte, ihren Herzschlag zu verlangsamen. Sie tat so, als wäre sie Aramon, der in seinem Sarg lag. Sie wartete darauf, dass das Grabgewölbe um sie herum kälter wurde.

D ie Restaurantterrasse in Les Méjanels, wenige Kilometer hinter Ruasse, lag direkt oberhalb der steinernen Brücke, die den Gardon überspannte. Der Fluss führte in diesem Frühling so viel Wasser wie schon seit Jahren nicht mehr. Alle redeten darüber, über den Gardon, der nach einem kalten Winter vom schmelzenden Schnee und von den jüngsten Regenfällen so herrlich jadegrün angeschwollen war.
    Veronica, Kitty und Anthony hatten einen Tisch ganz am Rand der Terrasse.
    Die warme Aprilsonne warf ihre Leuchtpfeile auf das rasch dahineilende Wasser. Auf der Speisekarte standen frisch gefangene Forelle, Froschschenkel und

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