Der unausweichliche Tag - Roman
irgendwie falsch ausgesehen. Im Sommer pflanzte sie scharlachrote Geranien in die Töpfe auf den Fensterbrettern, doch jetzt waren die Töpfe leer, und nach den schweren Regenfällen standen sie voll Wasser. Auf dem Mosaikpflaster ihrer Terrasse lagen feuchte Blätter, vom Wind zu komischen Mustern verwirbelt. Ihre steinerne Vogeltränke, an der sie gern Spatzen und Blaumeisen beim Trinken beobachtete, hatte Algen und Moose angesetzt. Der Fliegenvorhang hing schief über der Haustür. Und ihr kleiner, neben der Tür geparkter Fiat war derart verrostet, dass er nur noch auf den Schrotthändler mit seinem großen zuschnappenden Greiferarm zu warten schien.
Das Ganze sah erbärmlich aus. Wie Recht die potentiellen Käufer des Mas Lunel doch hatten, dachte Audrun: Ihren Wohnschuppen hätte es nie geben dürfen. Mas Lunel und das umgebende Land hätten ihr, Audrun, gehören sollen. Sie hätte die Hunde an einen Jäger verkauft, der sie versorgt und ihnen zu tun gegeben hätte. Sie hätte den Riss in der Mauer ordentlich repariert. Sie hätte alles sauber und hygienisch gehalten. Der Ort hätte gelebt.
Und mehr als alles andere hätte sie sich um das Land gekümmert. Denn es war das Land, das zählte. Im Cévenol hatten in jüngster Zeit Tausende, besessen von der Vorstellung, Geld aus ihren Häusern zu schlagen, ihre Pflichten als Hüter des Landes vergessen. Die Bäume wurden von Krankheiten heimgesucht. Die Weinterrassen zerbröckelten. Die Flüsse verschlammten. Und niemand schien darauf zu achten oder sich Gedanken zu machen – als würden die Dinge sich selbst reparieren, als würde die Natur die Arbeit des Menschen übernehmen,während dieser – so wie Aramon – vor seinem monströsen Fernseher saß und sein Hirn kilowattweise mit sinnlosen Lichtstrahlen perforieren ließ.
Und was war mit diesen neuen Menschen, den Ausländern, die das ganze Land aufkauften? Die sind hilflos, dachte Audrun. Hilflos. Es ist nicht ihre Schuld. Sie sind ergriffen von der Schönheit – Audrun wusste, dass das so war. Und sie bilden sich plötzlich ein, sie könnten alles selbst pflegen und erhalten. Doch in Wirklichkeit verstehen sie nicht das Geringste von der Erde.
Nicht zum ersten Mal, ganz gewiss nicht zum ersten Mal, entschied Audrun, dass nicht Bernadette, sondern Aramon 1960 hätte sterben sollen.
Dann wäre er jetzt zu Staub zerfallen. Ein köstlicher Gedanke: sein Gesicht, sein Lachen, sein schlechter Geruch … alles wäre Staub.
Und das ganze Land der Lunels, das ihre Großeltern vor über einem Jahrhundert erworben hatten, würde ihr gehören – bewaldet, strotzend und grün.
Audrun wanderte mit Marianne Viala durch ihren Wald. Der Fluss in ihrem Rücken floss schnell und führte viel Wasser. Immer wieder schoben sich bauschige weiße Wolken vor die Sonne.
»Du musst dich selbst schützen, Audrun«, sagte Marianne.
Sich selbst schützen? Marianne musste doch wissen, dass es diese Möglichkeit seit Bernadettes Tod für Audrun nicht mehr gab.
»Das meine ich ernst«, sagte Marianne. »Du solltest dir einen Anwalt nehmen. Wenn deine Kate an irgendeiner Ecke auf Aramons Land steht, hat er das Recht …«
»Sie steht nicht auf seinem Land. Sie steht auf meinem Land.«
»Wieso bist du da so sicher?«
»Wir haben uns damals die Pläne vorgenommen. Wir haben an den Grenzlinien Schnüre gespannt.«
»Dann ist ja alles in Ordnung. Dann hast du ja wohl nichts zu befürchten.«
Nichts zu befürchten .
Das hatte Bernadette gesagt, als sie Audrun nach Ruasse ins Krankenhaus brachte. Sie sagte, der Chirurg dort werde das Schweineschwänzchen abschneiden, das aus Audruns Bauch wuchs, und ihr genauso einen hübschen, normalen Bauchnabel machen, wie ihn all die anderen Kinder auch hatten. Und danach würde sie nie mehr solche Hänseleien hören, wie: »Zeig uns dein Schweineschwänzchen, Audrun! Zeig uns deinen Ferkelarsch!«
Sie lag im Krankenhausbett und konnte fühlen, wie das warme Blut aus der Wunde schoss und ihr über die Schenkel lief. Sie versuchte, jemanden zu rufen, aber das Zimmer, in dem sie lag, war riesig, und es hallte, und ihre Stimme hatte keine Kraft. Sie brachte nur einen kleinen erstickten Laut zustande, der zur Decke aufstieg wie ein gefangener Vogel.
Nichts zu befürchten .
Sie war acht Jahre alt. Sie wusste nicht, ob dieses heiß hervorschießende Blut normal war. Es fühlte sich nicht normal an. Es fühlte sich an, als würde das Leben aus ihr hinausfließen, das kostbare, einzige Leben
Weitere Kostenlose Bücher