Der unausweichliche Tag - Roman
hätte sie sich hingesetzt und richtig geweint. Aber es gab nichts zum Hinsetzen. Es gab nur den schmalen Pfad, gerade breit genug für eine Person. Und so blieb ihr nichts anderes übrig, als dem Weg so lange zu folgen, bis sie sich in der Lage sah, kehrtzumachen und zurückzugehen.
Anthony war überzeugt, dass Kitty ihnen diesen Augenblick des Glücks mit Absicht verdorben hatte, und das bestärkte ihn in dem Entschluss, nicht zuzulassen, dass sie den ganzen Tag ruinierte oder ihn gar von seinem Plan abbrachte. Und der sah vor, dass sämtliche Immobilienmakler in Ruasse aufgesucht wurden.
Nachdem sie eine halbe Stunde auf Kitty gewartet hatten, waren sie jetzt endlich auf dem Weg dorthin. Veronica fuhr, Anthony saß neben ihr, und niemand sagte ein Wort. Kitty lehnte den Kopf gegen das Fenster und hielt die Augen geschlossen.
Bestimmt will sie sofort nach Hause, dachte Anthony, um ihre hoffnungslosen Aquarelle anzustarren und sich irgendeinen Trick zu überlegen, mit dem sie mich loswerden kann. Aber das werde ich nicht zulassen. Ich bin Anthony Verey, und ich bin wieder ich selbst: Ich bin der Anthony Verey …
In Ruasse parkte Veronica den Wagen am Marktplatz unter weißstämmigen Platanen, die schon die ersten Blätter zeigten. Die Sonne ging gerade unter, und eine Andeutung von Kühle lag in der Luft. Auf der anderen Seite des Platzes gab es zwei Maklerbüros. Veronica schickte Anthony schon einmal vor und erklärte, sie komme gleich nach.
»In Ordnung«, sagte er. Aber er sagte es seufzend, um seiner Schwester zu signalisieren, dass er die Art, wie sie auf die Launen und Stimmungen von Kitty Meadows einging, absolutmissbilligte. Seiner Meinung nach hätte Kitty ruhig hinten im Wagen schmoren können, während V und er die Fotos der Häuser gemeinsam betrachteten. Ja genau, das wäre doch ideal gewesen: Kitty versauerte im Auto, eingesperrt wie ein Kind, während sie beide, die Vereys, einen ersten Blick in seine Zukunft warfen …
Er schlenderte über den Platz, den Krickethut immer noch auf dem Kopf, hörte das Klacken und Schlagen der boule -Spieler auf dem Kies und das Läuten einer alten Glocke. Ruasse besitze zwei Seelen, hatte man ihm erzählt, und dies hier war die eine, seine alte Seele. Zu ihr gehörten die Platanen mit der hellen Rinde, die schmalen, schiefen Gebäude mit den Ziegeldächern und etliche teure Geschäfte. Die zweite Seele war woanders zu finden, am Rande der Stadt, wo Hochhauskomplexe auf wenig stabilen Fundamenten balancierten. Wenn man es vermeiden konnte, mit dieser anderen Seele in Berührung zu kommen, um so besser. Jedenfalls hatte V das gesagt.
Jetzt stand Anthony vor dem Schaufenster eines der beiden Maklerbüros. Ihm klopfte das Herz. Er begann, Fotos und Preise zu studieren. Durch die Glastür konnte er zwei Frauen erkennen, die unter kalter Neonbeleuchtung an ihren Computern arbeiteten. Er bemerkte, wie sie hochblickten und seinen komischen Hut anstarrten.
V eronica saß in ihrer Küche, rauchte und horchte auf die abendliche Stille.
Vor ihr auf dem Küchentisch lagen halbfertige Skizzen eines Gartens, den sie für Kunden in Saint-Bertrand entwarf. Sie arbeitete nicht sehr konzentriert an diesen Zeichnungen, sondern fuhr nur mit dem Bleistift darin herum, schraffierte Stellen, wo Buchsbaum hin sollte, und eine Phalanx aus Eiben, über die die Kunden in Jubel ausgebrochen waren. Veronica wusste, dass es mindestens drei Jahre dauern würde, bis diese Eibenwand tatsächlich zu jenem stattlichen architektonischen Element herangewachsen war, das Monsieur und Madame schon vorweg so begeistert hatte. Doch darauf hatte sie nicht hinzuweisen gewagt. Sie war es müde, immer wieder zu betonen, dass Gärten Zeit brauchten, dass es sich nicht um Raumausstattung handelte, dass man Geduld haben musste. Sie wusste, dass sie nicht in einer geduldigen Welt lebte. Selbst hier, wo das Leben ruhiger dahinfloss als in England, konnte sie spüren, wie unruhig und erregt die Menschen darauf drängten, dass die flüchtigen Wunder, die in ihren Köpfen herumgeisterten, umgehend reale Gestalt annahmen.
Heute Abend war auch Veronica sehr unruhig. Der Tag hatte gut begonnen und schlecht geendet. Vorm Maklerbüro in Ruasse hatte sie sich Kitty im Auto vornehmen und ihr streng erklären müssen, dass nichts, nein, wirklich gar nichts, sie daran hindern werde, sich um Anthony zu kümmern. Denn er sei ihr Bruder, und falls sie, Kitty, von ihr erwarte, dass sie ihn in Zukunft nicht mehr
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