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Der unausweichliche Tag - Roman

Der unausweichliche Tag - Roman

Titel: Der unausweichliche Tag - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Suhrkamp-Verlag <Berlin>
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überlegen, was sich da unten im Tal abstrampelte.
    In dem von Pinienduft geschwängerten Dunst da draußen sah alles so wundersam einsam aus. Als würde jene Welt nicht den Menschen gehören, sondern den Adlern und der Stille. Und deshalb würde man es hier als Mensch auch fertigbringen, einfach nur zu sein . Endlich würde man es fertigbringen, all das Kämpfen sein zu lassen; man könnte einfach darauf warten, dass sie einen wieder packte: die Lust am Leben.

D as Auto der Maklerinnen erschien jetzt immerzu beim Mas Lunel. Es war ein ständiges Kommen und Gehen. Die ausgehungerten Hunde bellten wild und verzweifelt. Audrun sah, wie die Kaufinteressenten jedes Mal erstarrt in der Auffahrt stehen blieben.
    Als sie wieder einmal den Weg hinaufgelaufen war, um Aramon einen Stapel sauberer Wäsche zu bringen, sagte sie: »Wenn du das Haus wirklich verkaufen willst, solltest du sehen, dass du die Hunde loswirst.«
    Er fummelte gerade an einer defekten Taschenlampe herum, nahm die Batterien heraus, legte sie wieder ein, knallte die Lampe auf den Holztisch. »Es sind nicht die Hunde«, sagte er. »Sie wissen, dass die Hunde zusammen mit mir verschwinden. Es ist deine Hütte.«
    Audrun legte die saubere Wäsche auf einen Stuhl. Denn jetzt hatte sie keine Lust mehr, sie ihm in seinen Trockenschrank einzusortieren. Sie sah, dass die Taschenlampe plötzlich wieder funktionierte. Hörte, wie ihr Bruder zufrieden schnaufte.
    »Ja«, sagte er und leuchtete ihr mit dem Lichtstrahl ins Gesicht. »Sie sagen, dein Haus ist ein Schandfleck. Das ist der Ausdruck, den alle benutzen, ein ›Schandfleck‹. Deshalb habe ich ihnen geraten, sie sollen dich rauskaufen. Dein Haus abreißen! Das ist doch eine Idee, oder? Ich könnte es aber auch für sie tun. Sie würden mich dafür bezahlen, wenn ich es mache.«
    Er lachte so schrill und keuchend, dass er sich krümmen musste. Knipste die Taschenlampe aus, knallte sie auf den Tisch und fischte nach einer Zigarette. »Den Leuten mit Geld«, sagte er, »denen gefallen alte Häuser. Die verlieben sich in Stein und Schiefer und massives Holz. Für sie ist so ein Haus wie deins vollkommen wertlos. Nur ein hässlicher Fleck in der Landschaft.«
    Audrun drehte sich um und ging zur Tür. Kurz bevor sie in die Sonne hinaustrat, hörte sie Aramon sagen: »Du solltest dich schämen, dass du es so nah an die Grenze gesetzt hast.«
    »Ich habe es dorthin gesetzt, wo man mir gesagt hat, dass ich bauen soll«, erklärte Audrun sehr ruhig. »Damit es Anschluss an Strom und Wasser hat.«
    »Das mag ja sein«, sagte Aramon, »aber an einigen Stellen bist du über die Grenzlinie gegangen. Ich habe dich doch dabei gesehen, pardi ! Deshalb werde ich den Landvermesser kommen lassen, und der soll prüfen, wo du von meinem Land geräubert hast. Und alles, was sich auf meinem Grund und Boden befindet, werde ich rechtmäßig plattwalzen.«
    Es hatte keinen Sinn, noch zu bleiben und mit ihm zu streiten. Worte führten bei Aramon nie zum Erfolg. Schon, als er noch klein war, hatte nur eins bei ihm Erfolg gehabt: Prügel, die Serge mit einem Gürtel oder einem Bambusstock austeilte. Was jetzt Erfolg verspricht, dachte Audrun, ist Geld. Das ist das Einzige, was noch helfen kann.
     
    Als Audrun wieder vor ihrer Tür stand, drehte sie sich um, blickte prüfend in alle Richtungen. Obwohl diese beiden Häuser, Mas Lunel und ihre eigene Kate (die keinen Namen hatte), nur wenig außerhalb von La Callune standen, schienen sie kilometerweit von jeglicher anderen Behausung entfernt. Bis auf die Straße hinter ihrem Häuschen, die alte Zufahrt zum Mas, die Serge mit Schiefer- und Ziegelbruch befestigt hatte, sowie die zusammenfallenden Mauern der Weinterrassen und ihren kleinen Gemüsegarten war alles wilde Natur – Wiese, Steineichen, Buchen, ihr Kastanienwäldchen, der Pinienhang darüber und der Fluss weiter unten. Die Leute hielten Audrun für einfältig, nicht ganz richtig im Kopf, weil ihr manchmal der Faden der Zeit riss und kleine Stücke davon abhanden kamen, aber so einfältig war sie nicht, dass ihr entgangen wäre, wie wunderschön all das hier war. Sie wusste, dass ein Geschäftsmann aus irgendeinerhässlichen, verstopften Stadt genau so etwas gerne kaufen würde.
    Sie drehte sich um und starrte auf ihre Kate, auf das ausgebleichte Rosa der verputzten Wand und die Metallrahmen der Fenster, die sie selbst blau gestrichen hatte, weil das Bernadettes Lieblingsfarbe gewesen war. Aber neben dem Rosa hatte das Blau immer

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