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Der unausweichliche Tag - Roman

Der unausweichliche Tag - Roman

Titel: Der unausweichliche Tag - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Suhrkamp-Verlag <Berlin>
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glauben, was ich da alles höre! Bist du von allen guten Geistern verlassen, Anthony?«
    »Nein. Für mich ist es in London vorbei. Du und Benita, ihr wisst das genauso gut wie ich. Und deshalb versuche ich hier unten, in der Nähe von V, einen neuen Start.«
    Lloyd stieß einen langen, melancholischen Seufzer aus.
    In das Schweigen hinein, das diesem Seufzer folgte, sagte Anthony sehr ruhig: »Ich versuche, meine Seele zu retten, Lloyd, oder das, was davon noch übrig ist.«
    »Du musst dir was leihen «, bellte Lloyd. »Das ist das einzig Vernünftige, was du machen kannst.«
     
    Es regnete.
    Veronica und Kitty saßen auf ihren alten Holzstühlen im steinernen Bogendurchgang, der auf die Terrasse führte, und sahen dem Regen zu.
    Dieser Regen war Manna: das, wonach sie sich gesehnt hatten, Monat für Monat. Sie horchten, wie er die schicken neuen Regenrinnen entlanggluckerte, auf die Blätter des spanischen Maulbeerbaums prasselte. Wenn er die Erde unter diesem Maulbeerbaum vollkommen durchtränken würde, wäre er ein guter Regen, wäre mehr als das, was die Menschen in Sainte-Agnès deux gouttes nannten. Das war eine ihrer Arten, den Regen zu messen.
    Sie atmeten die feucht riechende Luft. Malten sich aus, wie schon jetzt die Abermillionen feinster Graswürzelchen unmerklich anschwollen und wie ihr Rasen, wenn der Regen anhielt und nicht plötzlich von einem Augenblick zum anderen aufhörte, innerhalb der nächsten sechsunddreißig Stunden wieder wunderbar grün leuchten würde.
    Der segensreiche Regen hielt an, verstärkte sich, der Himmel war schiefergrau, und auf dem unebenen Steinfußboden der Terrasse sammelte sich das Wasser in Pfützen. Anthony erschien im Durchgang.
    »Was macht ihr denn hier?«, fragte er Veronica.
    »Wir sehen dem Regen zu«, sagte sie.
    »Wir sehen dem Regen zu«, sagte Kitty.
    Anthony blickte die beiden Frauen an. Sie verhielten sich so still, schienen so ergriffen und verzaubert von dem fallenden Regen, als säßen sie gerade in einer brillanten Schwanensee-Aufführung. Weshalb er es nur angemessen fand, sich dazuzugesellen, indem er einen weiteren Stuhl besorgte und, als wären sie in einer Theaterloge, stumm neben ihnen Platz nahm und ebenfalls das Schauspiel verfolgte.
    Seltsam, dachte er, während er sich setzte, es ist seltsam und unvorhersehbar, was einem alles kostbar, was einem zum Liebling werden kann. Wer hätte gedacht, dass Regen für zwei englische Frauen mittleren Alters einmal solch ein Geschenk werden kann? Für Afrikaner, ja. Für jenes ausgedörrte Land. Lal hatte ihm häufig sehr anschaulich erzählt, wie der Regen in dieKapprovinz kam, wenn die Wege der großelterlichen Farm sich rot färbten, wunderschön blutrot und ziegelrot, und wenn überall auf der kargen Steppe namenlose Blumen aus der Erde schossen. Aber so leidenschaftlich hatte Veronica Regen bestimmt noch nie betrachtet.
    »Man kann es nicht ahnen«, sagte er laut. »Man kann es einfach nicht ahnen.«
    »Was?«, fragte Veronica.
    Anthony hatte gar nicht gemerkt, dass er laut gesprochen hatte.
    »Oh«, sagte er, »ich dachte nur gerade, dass es gut ist, wenn man es nicht vorher weiß. Wenn man nicht weiß, was einen plötzlich dazu bringt, etwas zu fühlen.«
    »Was denn fühlen?«, fragte Kitty.
    Sie musste natürlich den Zauber zerstören. Und das gehörte zu den vielen Dingen, die Anthony an ihr einfach nicht ausstehen konnte. Sie war diese kleine, pedantische, fantasielose Zauberzerstörerin. Wie albern, wie komisch, dass sie sich für eine Künstlerin hielt! Anthony seufzte. Wenn er hier erst einmal richtig Fuß gefasst hatte, musste er eine neue Partnerin für seine Schwester finden.
    »Überhaupt irgendetwas fühlen«, sagte er. »Entzücken, zum Beispiel. Oder Verärgerung.«
     
    Der Regen dauerte drei Tage. Die Mimosenblüten wurden zu braunem Matsch. Das Haus wurde kalt. Anthony hatte allmählich das Gefühl, England sei ihm hierher gefolgt und packe ihn am Ärmel, auch wenn er sich nach Kräften bemühte, es sich vom Leibe zu halten.
    Durch das Fenster starrte er auf die in blauen Dunst gehüllten Cevennen. Hier oben in den Bergen, dachte er, müsste das Leben doch wirklich einzigartig sein. Man würde die ehrwürdige Großartigkeit der Dinge spüren, sich den Sternen näher fühlen. Und wieder das Gefühl haben, dass die Welt einem zu Füßenliegt, dass man Herr seines Reichs ist – so wie er, Anthony, sich in den glorreichen Jahren von Reichtum und Erfolg gefühlt hatte –, einfach allem

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