Der unausweichliche Tag - Roman
mehr gekommen«, sagte er. »Das schwöre ich bei meinem Leben.«
Kitty spürte jetzt, wie sie unter ihrem Schweißfilm am ganzen Körper zu frieren begann. Sie trat aus dem Schatten des Hauses in die Sonne.
»Es tut mir sehr leid, dass ich Sie gestört habe, MonsieurLunel«, sagte sie. »Ich hatte kein Recht, Ihr Grundstück zu betreten, aber ich hoffe, Sie können verstehen, dass wir sehr besorgt sind …«
»Er hatte einen Autounfall, Madame«, sagte Lunel. »Das glaube ich jedenfalls. Ihr Engländer fahrt auf der falschen Seite der Straße. Wie können Sie da wissen, wo Sie langfahren sollen?«
Kitty lächelte. Aber selbst in der Sonne zitterte sie noch. Sie sehnte sich plötzlich nach der Hitze in ihrem Auto, sehnte sich danach, irgendwo weit weg zu sein. Sie wusste, dass Privatdetektivin Kitty Meadows einen Weg gefunden hätte, sich im Haus umzuschauen – um nach irgendwelchen dort verborgenen Hinweisen zu suchen. Aber sie fühlte sich nicht in der Lage, mit Lunel das dunkle Innere zu betreten. Sie wollte nur noch weg.
Sie streckte die Hand aus, und Lunel hängte das Gewehr über die Schulter und ergriff sie. Sie verabschiedete sich, und Lunel öffnete den Mund, als wollte er etwas sagen, schloss ihn dann aber wieder und entfernte sich in die Richtung, aus der er gekommen war. Kitty sah ihm hinterher und ging dann rasch zu ihrem Auto. Sie wünschte, im Wagen läge eine Flasche Wodka. Sie hatte einen Schock und wusste, sie durfte eigentlich nicht fahren, ehe es ihr wieder besser ging.
Sie öffnete die Wagentür und beruhigte sich mit dem Gedanken, dass sie ja in La Callune haltmachen konnte. Dort gab es bestimmt ein Café. Sie würde sich so lange an einen Tisch setzten und in Ruhe ihren Wodka mit Tonic trinken, bis sie sich stark genug für die lange Heimfahrt fühlte. Dankbar sank sie in den Fahrersitz. Sie wollte gerade die Tür schließen, als sie unter der Tür etwas im Gras glitzern sah. Sie schaute genauer hin und erkannte, dass das, was sie für eine Glasscherbe gehalten hatte, in Wirklichkeit ein Stück Zellophanpapier war. Sie starrte es an. Und als sie begriff, worum es sich handelte, sammelte sie es auf. Es war Einwickelfolie vom Straßen-Imbiss La Bonne Baguette . Kitty schloss die Wagentür, ließ sich dankbar von der Wärmeeinhüllen und studierte die Folie. Auf dem Etikett waren noch die Worte fromage/tomate zu entziffern.
Kitty legte die Sandwichfolie in ihr Handschuhfach und startete den Wagen.
Sie brauchte drei Anläufe, um zu wenden. Unter ihren verschwitzten Händen wurde das heiße Lenkrad ganz rutschig. Sie war schon auf der Höhe der Kate, als sie merkte, dass sie auf der falschen Seite fuhr.
Mit einem Schwenk korrigierte sie sich. Ihr Blick fiel auf einen geblümten Kittel, der einsam an der Wäscheleine der Kate hing und im auffrischenden Wind sanft hin und her schwang. Mistral, dachte sie. Er wird bald kommen, der Wind, der die Flüsse austrocknet und die Blätter lang vor der Zeit gelb färbt, der Wind, der bleibt …
A udrun wusste nicht, warum, aber all ihre Träume in dieser Zeit waren glückliche Träume.
Lag es daran, dass das, worauf sie gewartet hatte, vorbei war? Das glaubte sie nicht, denn es war nicht vorbei – noch nicht, noch nicht ganz. Es war jetzt nicht mehr rückgängig zu machen, aber ein letzter Akt fehlte noch. Und dann würde es vorbei sein: Es würde zu Ende sein.
Diese Träume von vergangenem Glück, die gab es jedenfalls: wie sie mit Bernadette im Bus ans Meer gefahren war und unterwegs die ganze Zeit gesungen hatte; wie sie am Kai von einem Blechteller Austern gegessen und den unendlichen Ozean gesehen hatte.
Und dann der schönste von allen: ihr Traum von jenem Tag – dem einzigen in all den Jahren –, als Raoul Molezon vor der Unterwäschefabrik auf sie wartete. Sie wäre fast an ihm vorbeigegangen, weil sie niemals erwartet hätte, dass er dort auftauchen könnte, aber er rief ihren Namen, und sie blieb stehen. Er ging mit ihr in ein Café und bestellte ihr einen sirop de pêche und für sich ein Bier. Er sagte zu ihr: »Mir ist etwas aufgefallen, Audrun: Du wirst eine richtige Schönheit. Als deine Mutter jung war, muss sie genauso ausgesehen haben wie du jetzt.«
Eine Schönheit.
Sie, eine Schönheit?
Ihr war nach Weinen zumute gewesen. Vielleicht hatte sie auch wirklich geweint. Geweint in dem billigen Café, über ihrem sirop de pêche , weil Raoul Molezon so etwas Wunderbares gesagt hatte.
Sie hatte ihm damals erklärt, die Fabrik
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