Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der unausweichliche Tag - Roman

Der unausweichliche Tag - Roman

Titel: Der unausweichliche Tag - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Suhrkamp-Verlag <Berlin>
Vom Netzwerk:
vergifte die Menschen. Die Unterwäsche wurde aus Kunstseide hergestellt. Beim Nähen musste man die Kunstseide strecken und ziehen wie eine Haut, und in dieser Haut war eine Chemikalie, die Schwefelkohlenstoffhieß und schlecht roch und zu Ekzemen und Furunkeln führte oder sogar blind machen konnte.
    Und Raoul Molezon hatte gesagt, es sei eine Tragödie, dass sie an solch einem Ort arbeiten musste. Was sie selbst darauf geantwortet hatte, wusste Audrun nicht mehr; es gab darauf anscheinend auch nichts zu sagen, damals nicht und später nicht.
    Doch jetzt träumte sie nicht von der Fabrik oder den Pusteln auf ihren Händen und um ihre Nase herum, die vom Schwefelkohlenstoff in der Kunstseide kamen, sondern nur von jenem Augenblick, als Raoul sie eine Schönheit nannte.
    Diese Träume wirkten sehr erfrischend. Man wachte morgens auf, ohne an die Last all dessen zu denken, was nicht richtig war, fühlte sich, im Gegenteil, dem kommenden Tag freundlich gewogen, war neugierig auf das, was er bringen mochte. Und dieses optimistische Gefühl konnte bis zum Nachmittag anhalten, manchmal sogar bis in die Dämmerung hinein.
    Doch schließlich verflüchtigte es sich aus irgendeinem Grund. Audrun blickte dann in den dunkler werdenden Himmel hinter ihrem Wald und sah ihre Hoffnungen für die Zukunft davonfliegen.
    Sie versuchte, sich mit Fernsehen abzulenken. Sie liebte alte amerikanische Krimis mit ihrer schauerlichen Musikuntermalung. Sie liebte Krankenhausdramen. Und am allermeisten liebte sie aus Japan importierte Sendungen, in denen Menschen die seltsamsten Dinge taten: Sie ritten rückwärts auf Pferden, sie schlugen Purzelbäume durch Feuerreifen, sie aßen Taranteln, liefen auf Stelzen durch den Schnee. Oder manchmal lagen sie einfach nur regungslos auf der Erde und blickten in Millionen von blühenden Kirschbäumen. Und an der Stelle musste Audrun daran denken, wie Aramon einmal einen weiß blühenden Zweig geschnitten, ihr in die Arme gelegt und ihre Wange geküsst hatte und wie sie ihn da gefragt hatte: »Jetzt bin ich eine Prinzessin, nicht?«
     
    Die Tage vergingen, und der Fluss führte immer weniger Wasser. Kein Regen fiel.
    Unterhalb von La Callune, dort, wo der Fluss langsamer floss, füllten sich allmählich die Campingplätze. Unterricht im Kajakfahren wurde angeboten. Touristen zogen gelbe Schwimmwesten über und kreischten, wenn die zerbrechlichen Kajaks in den Strudeln hüpften und tanzten. Grillwolken färbten die Abendluft. Laute Musik kam und ging mit dem ständig drehenden Wind.
    Manchmal rätselte Audrun, ob der Landvermesser noch einmal auftauchen würde, aber es gab keine Anzeichen von ihm, und jetzt war es ihr auch egal, weil all das – das Problem der Grenzen und Grenzsteine – nicht mehr zählte beziehungsweise bald nicht mehr zählen würde.
    Unterdessen mied sie Aramon. Manchmal sah sie ihn zur Arbeit auf die verwilderten Weinterrassen schlurfen. Und ihr fiel auf, wie unsicher er sich bewegte, wie er mit jedem Tag schwächer wurde. Aber sie ging nicht hinauf zu seinem Haus.
    Sie beobachtete, wie Madame Besson eine holländische Familie anbrachte. Sie besichtigten das Mas Lunel, blieben aber nicht lange. Die Kinder hatten schreckliche Angst vor den Hunden und schrien die ganze Zeit. Die Köpfe stramm nach vorn gerichtet, fuhr die Familie an Audruns Kate vorbei und schaute nicht einmal zurück. Und ein Artikel im Ruasse Libre informierte Audrun darüber, dass die Grundstückspreise zu sinken begannen. »Siehst du?«, sagte sie im Geiste zu Aramon. »Diese Riesensummen waren Hirngespinste.«
     
    Dann erschien Aramon eines Abends an ihrer Tür – genau zu der Zeit, als die freundliche Wirkung ihrer Träume allmählich nachließ –, er war bleich und konnte kaum sprechen. Sie sagte, er sehe ja aus, als hätte er ein Gespenst gesehen, und er erwiderte: »Ich habe auch ein Gespenst gesehen. Komm mit zur Scheune und sieh selbst.«
    Sie folgte ihm dorthin. Er ging voraus, versuchte kleine, galoppierende Schritte zu machen und geriet bald außer Atem. Sie erkannte, dass Herz und Lunge ihm das schnelle Laufen nicht mehr erlaubten.
    Das schwere Scheunentor stand offen, und sie traten ein. Innen war es dunkel, da das Tageslicht im Schwinden begriffen war, aber Aramon nahm eine Taschenlampe von einem Regal und leuchtete damit auf das Chaos, das sich über all die Jahre in der großen Scheune angesammelt hatte.
    »Sieh doch!«, sagte er. »Sieh doch da hinten!«
    Irgendetwas stand da. Es war sehr groß

Weitere Kostenlose Bücher