Der unausweichliche Tag - Roman
4.
Rechter Hand, am Ende der struppigen Wiese, befand sich eine hohe Natursteinscheune, auch sie trotz ihres verfallenen Zustands hübsch anzusehen. An die Scheune konnte Kitty sich nicht so recht erinnern, aber jetzt vermutete sie, dass Anthony sicherlich schon Pläne mit ihr hatte – für eine Garage oder ein Schwimmbad. Und sicherlich hatte er festgestellt, dass es hier nichts gab, was sich nicht umfunktionieren ließ, nichts, was nicht für seine Bedürfnisse herzurichten war. Bis auf die Kate. Er hatte sie gesehen und war gegangen. Aber sie irrte sich ganz bestimmt nicht; das Grundstück war wunderschön, und das Problem mit der Kate war zu lösen. Anthony war mit Sicherheit noch einmal hergekommen.
Kitty wischte sich den Schweiß vom Gesicht, fuhr mit der Hand durch ihr kurzes Haar und stieg aus dem Auto. Etwas fiel ihr sofort auf: der Gestank. Den hatte es beim letzten Mal noch nicht gegeben. Da hatte die Luft nach dem duftenden maquis gerochen. Jetzt war sie verdorben. Sie fragte sich, ob etwa Abgase aus den Fabriken in Ruasse bis hierher gelangen konnten, wenn der Wind entsprechend wehte. Oder kam der Gestank von etwas anderem? Zum ersten Mal seit ihrem Aufbruch hatte Kitty ein mulmiges Gefühl.
Trotzdem ging sie mutig zum Haus und klopfte an die geschlossene Haustür. Als die Hunde Witterung aufnahmen, rüttelten sie am Gitter ihres Käfigs. Mitleid mit dem Elend dieser Kreaturen nahm Kitty ein wenig die Angst. Was würde Lunel wohl mit den Tieren machen, wenn das Haus verkauft war?
Niemand kam an die Tür. Kitty stand und wartete und schaute sich um. Hier war der Gestank besonders stark, er schien aus dem Hundezwinger zu kommen. Sie machte einen Schritt nach rechts, zum Fenster, dessen Läden nicht ganz geschlossen waren. Sie konnte einzelne Dinge im dunklen Innern erkennen: einen Küchentisch, eine Blechschüssel voll dreckiger Wäsche …
Dann hörte sie hinter sich eine Bewegung, drehte sich um und erstarrte. Wenige Meter hinter ihr stand Lunel und hatte ein Gewehr auf sie gerichtet.
Sie hob die Arme und dachte: Jetzt sterbe ich wegen Anthony Verey. Es nimmt kein Ende mit dem, was er der Welt abverlangt. Kein Ende .
»Monsieur Lunel …«, begann sie.
»Qui êtes-vous? Que faites-vous ici?«
Er hielt das Gewehr immer noch auf sie gerichtet, aber Kitty sah, dass seine Hände zitterten. Und er war außer Atem, hinter dem Gewehrkolben hob und senkte sich seine magere Brust. Ein dummer Zufall – und in der nächsten Sekunde schon konnte sie tot sein.
Sie zwang sich, ihn mit ruhiger Stimme auf Französisch zu bitten, er möge die Flinte weglegen, aber er rührte sich nicht. Er erklärte ihr, er verteidige seinen Besitz, verteidige ihn Tag und Nacht. Erst als sie das Wort »Verey« sagte, merkte sie, wie seine Miene sich veränderte. Langsam ließ er die Flinte sinken.
»Verey?«, fragte er. »Der Engländer?«
»Ja«, sagte Kitty. »Ich habe ihn bei der Besichtigung Ihres Hauses begleitet.«
»Seine Schwester. Richtig? Sie sind seine Schwester?«
»Nein. Ich bin nur – eine Freundin. Aber ich bin gekommen, um Sie zu fragen …«
»Er soll verschwunden sein, heißt es. Hat man ihn gefunden?«
»Nein.«
»Was wollen Sie hier? Er ist nicht mehr gekommen. Er kam nur das eine Mal, als Sie alle dabei waren. Fragen Sie die Maklerinnen. Die Maklerinnen können das bestätigen: Er ist nur das eine Mal hierher gekommen.«
Kitty nickte. »Vielen Dank«, sagte sie höflich. »Das war alles, was wir wissen wollten; ob ihn noch jemand anderes am Dienstag gesehen hat. Wir wussten, dass er sich sehr für Ihr Haus interessierte, deshalb dachten wir …«
»Kommen Sie herein. Sie können mein Telefon benutzen. Rufen Sie Madame Besson an. Ich sage die Wahrheit. Ich habe Verey danach nicht mehr gesehen. Ich wäre bereit gewesen, ihm das Grundstück zu sehr guten Bedingungen zu verkaufen. Ich wäre nicht gierig gewesen. Schauen Sie mich an. Sie sehen doch, dass ich kein gieriger Mensch bin. Und ich habe auch mit meiner Schwester darüber gesprochen, was man wegen der Kate unternehmen könnte …«
»Ja? Sind Sie da irgendwie weitergekommen? Hat Ihre Schwester dem Verkauf der Kate zugestimmt?«
»Noch nicht. Aber sie wird zustimmen. Das wollte ich Verey sagen – dass sich für alles eine Lösung finden lässt. Ich dachte, er würde wiederkommen, aber das hat er nicht getan.«
»Sind Sie da absolut sicher? Er ist am Dienstagnachmittag nicht hier erschienen?«
Lunel schüttelte den Kopf. »Er ist nicht
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