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Der unausweichliche Tag - Roman

Der unausweichliche Tag - Roman

Titel: Der unausweichliche Tag - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Suhrkamp-Verlag <Berlin>
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mit dem neuen beginnen konnte, das »Die Bedeutung des Schattens« heißen sollte.
    Und dann schweiften ihre Gedanken zu Lal, die in einem Sonnenland aufgewachsen war und immer gespottet hatte, dass die Menschen in England tatsächlich Schutz vor der Sonne suchten. »Wer seine Kindheit am Kap verbracht hat«, hatte Lal gesagt, »für den klingt der Begriff englischer Sommer wie ein Widerspruch in sich.«
    Doch es hatte durchaus auch heiße Tage gegeben. Lal nahm sie stets begeistert wie einen Goldschatz entgegen und widmete sich ihnen hingebungsvoll. Im Garten von Bartle House bot sie sich, auf einer Rohrliege, in Badeanzug oder trägerlosem Sommerkleid und mit einer weiß gerandeten Sonnenbrille, dem Himmel dar. Und schon bald nahm ihre Haut wie von selbst einen zauberhaften Honigton an.
    Der Knabe Anthony schleppte dann eine alte Schottenkarodecke an, breitete sie im Gras aus und spielte mit seinen Zinnsoldaten. Er baute sie in offener Formation auf und ließ sie zielstrebig auf Lals Liege vorrücken. Dort angekommen, stellte er sie in einer Reihe auf, und sie kletterten, einer nach dem anderen, die Beine der Liege hoch, bis sie Lals Füße erreichten. Und wenn die kleinen Bajonette Lals Haut zu kitzeln begannen, lachte sie und sagte: »O nein! Nicht noch ein Brückenkopf !«
    Manchmal steckte er die Soldaten zwischen Lals Zehen und tat so, als wären sie in einer Leichenhalle aufgebahrte Tote. Und er hielt Lals Füße fest, wenn sie kicherte und zappelte. Er erklärte ihr, das Rot ihrer Fußnägel sei das Blut seiner tapferen Männer.
    Einmal blieb Anthony zu lange in der Sonne, spielte zu lange auf der Schottendecke. Sein Gesicht wurde knallrot, dann blass, dann musste er sich auf den Rasen übergeben, und der Arzt wurde gerufen, und Anthony hatte tagelang einen Sonnenstich. Aber Lal war eine nachlässige Krankenschwester. Sie überließ es Veronica, ihm Tabletts mit Brühe hochzubringen und Anthonys Bett frisch zu beziehen. Und bei den ersten Anzeichen seiner Genesung überließ sie die beiden ganz und gar sich selbst und verschwand nach London, wo sie im Berkeley Hotel wohnte. »Ihr werdet es nett haben, ihr Süßen«, sagte sie. »Mrs. Brigstock wird ein Auge auf euch haben. Sie ruft mich an, wenn irgendetwas Besonderes ist.«
    Sie waren also sich selbst überlassen. Nach einigen Tagen ging Veronica mit Anthony in den Garten. Er war noch imSchlafanzug und hielt sich an ihrem Arm fest. Und jetzt, in diesem Moment, fiel ihr wieder ein, dass er die ganze Zeit gesagt hatte: »Lass uns nicht in die Sonne gehen, V. Lass uns nicht in die Sonne gehen.« Also wanderten sie sehr langsam zu dem Wäldchen und setzten sich gemeinsam unter die Bäume.
    »Ich komme!«, sagte sie jetzt laut, und ihre feste Stimme übertönte entschieden das Brummen der Klimaanlage. »Ich bin’s – V. Ich komme und finde dich.«

W ie Gift in ihrem Blut, befand Kitty, war der »V«-Teil von Veronica.
    Dort saß die Wurzel jeder egoistischen Handlung, jeder Unfreundlichkeit. Veronica war liebevoll, mitfühlend und klug; V war nichts von alledem. V war ein Snob und eine Tyrannin. Sie war das Relikt aus einer verschwundenen Zeit.
    Kitty legte sich ins Bett und schlief eine Weile. Das war seit jeher ihre Methode, mit Kummer fertig zu werden. Aber die späte Vormittagshitze im Zimmer war unerträglich, und nachdem sie sich durch einen Albtraum geschwitzt hatte, in dem Veronica sie für immer verließ, stand sie auf, duschte und setzte sich auf die Terrasse in den Schatten, trank Wasser, aß etwas Obst und versuchte nachzudenken und Ordnung in das Geschehene zu bringen.
    Bei der Vorstellung, Anthonys Verschwinden könnte von jetzt an das einzige Thema in Les Glaniques sein, wurde ihr ganz elend. Die Aussicht war tatsächlich derart niederschmetternd, dass Kitty fast schon wünschte, dieser erbärmliche Mann würde plötzlich wieder auftauchen. Natürlich mit ein paar Schrammen. Als jemand, der Angst und Schrecken und Schmerzen durchlitten hatte – endlich einmal in seinem verwöhnten Leben! Der aber noch am Leben war. Und, mit einigem Glück, so gründlich traumatisiert durch das Erlebnis in den Cevennen – was immer geschehen sein mochte –, dass er nicht mehr an eine Zukunft in Frankreich dachte.
    Dann würde V sich wieder in Veronica verwandeln. Alles würde wieder so sein, wie es gewesen war …
    Kitty gähnte. Wenn sie Anthony zurück haben wollte, musste er erst einmal gefunden werden. Vermutlich würde die französische Polizei sich bei

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