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Der unausweichliche Tag - Roman

Der unausweichliche Tag - Roman

Titel: Der unausweichliche Tag - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Suhrkamp-Verlag <Berlin>
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umwickelte ihre Hand mit einem Stück Tuch und versuchte, den Griff der Wagentür zu bewegen, zog heftig daran, doch die Tür gab nicht nach, und in der nächsten Sekunde setzte ein ohrenbetäubender Lärm ein – die Alarmanlage des Wagens –, und die Blinker begannen, wie wahnsinnig an- und auszugehen.
    Aramons Weinen wurde zu einem Geheul. Er hielt sich die Hände über die Ohren. Er sah aus wie ein Verrückter, als er dort im Dreck tobte.
    Sein zuckender Körper stieß gegen ein paar uralte Rechen und Mistforken, die an der Wand lehnten, und sie fielen, eine nach der anderen, wie Gitterstäbe eines Käfigs auf ihn und nagelten ihn an die Erde.
     
    Sie befreite ihn von den Rechen, fand die Taschenlampe und brachte sie wieder zum Brennen und half Aramon auf die Füße. Als sie nach seinem Arm fasste, merkte sie, wie dünn er geworden war. Sie führte ihn aus der Scheune in die hereinbrechende Nacht. Die Alarmanlage verstummte ganz plötzlich. Audrun schloss das Scheunentor.
    Auf ihrem Weg zurück zum Mas hörte Aramon auf zu weinen. Die Hunde jaulten, als sie sich dem Zwinger näherten. Audrun führte Aramon in die Küche und knipste die Neonröhre über dem Tisch an. Sie setzte ihn auf einen Holzstuhl, goss etwas Pastis in ein Glas und füllte es bis zum Rand mit kühlem Wasser aus dem Hahn.
    Er trank dankbar. Sein Gesicht war verschmiert von Tränen und Scheunenstaub. Audrun setzte sich neben ihn und sprach ruhig mit ihm, so wie Bernadette früher mit ihnen geredet hatte, wenn sie die beiden Kinder ausschimpfte, ohne die Stimme zu heben.
    »Aramon«, sagte sie. »Solche Dinge sind nur eine Frage der Zeit. Man kann Sachen verstecken, so wie du versucht hast, das Auto zu verstecken, aber am Ende kommen sie doch ans Licht. Deshalb musst du versuchen, dich an das zu erinnern, was geschehen ist. Das ist deine Chance – versuch dich zu erinnern. Das hast du nie gerne getan, bist nie gern zu Dingen zurückgegangen, die du vergessen wolltest, aber jetzt musst du das, damit du dich besser verteidigen kannst. Verstehst du, was ich sage?«
    Er hielt immer noch Bernadettes Taschentuch in der Hand,das vom Alter ganz dünn war. Er wischte sich den Mund damit. Er nickte.
    »Das Auto ist abgeschlossen«, sagte Audrun. »Also musst du zuerst überlegen, was du mit dem Schlüssel gemacht hast. Dann können wir sehen, ob irgendetwas da drin ist …«
    »Er ist weg«, sagte er.
    »Wer ist weg? Der Ort, wo du den Schlüssel hingelegt hast? Hast du vergessen, wo du ihn versteckt hast?«
    »Alles ist weg. Habe ich etwas Schreckliches getan? Vielleicht habe ich das, Audrun, vielleicht … weil …«
    »Weil was? Weil was ?«
    »Herrgott noch mal, ich habe zwei Patronenhülsen in meiner Flinte gefunden! Ich weiß nicht, wie die da hingekommen sind. Wieso würde ich die da drin lassen? Ich würde nie benutzte Patronen in der Flinte lassen. Und wofür habe ich die Flinte benutzt? Ich weiß es nicht!«
    Er begann wieder zu weinen. Audrun sagte, er solle noch einen Schluck Pastis nehmen, und er trank das Glas aus.
    »Ich bin sicher, es fällt dir alles wieder ein«, sagte sie ruhig. »Wir glauben häufig, bestimmte Dinge würden aus unserem Kopf verschwinden, aber dann erhalten wir einen Hinweis – vielleicht durch ein Foto oder einen besonderen Geruch –, und wir können alles wieder richtig zusammensetzen. Ich kann dir helfen. Ich glaube, du solltest jetzt schlafen, aber wenn du dich morgen besser fühlst, kann ich dir helfen, ein paar Lücken auszufüllen, denn ich habe dir ja gesagt, ich sah dich an jenem Tag mit Verey. Ich sah dich aus meinem Fenster …«
    Er blickte sie flehend an. »Bitte geh nicht zur Polizei«, sagte er. »Du bist meine Schwester. Verrat mich nicht.«
    Sie nahm seine Hand in ihre und hielt sie zärtlich an ihre knochige Brust.
    »Es war das Geld, nicht wahr?«, sagte Audrun. »Verey wollte nicht deinen Preis zahlen, und du warst enttäuscht. Geld macht die Menschen verrückt.«

V eronica hatte das Gefühl, von Trancen heimgesucht zu werden. Trancen aus Schmerz.
    Mitten in den alltäglichsten Verrichtungen überfiel so eine Trance sie. Wenn sie sich hinsetzte, um ihre Schuhe anzuziehen, blieb sie manchmal einfach in dieser Haltung sitzen und starrte minutenlang auf ihre Füße.
    Es war inzwischen Juni und sehr heiß. Die Journalisten, die nach der ersten Meldung der Polizei das Haus belagert hatten, waren wieder verschwunden. Hinweise auf den Fall tauchten im Ruasse Libre jetzt nur noch in den vermischten

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