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Der unbeugsame Papagei

Der unbeugsame Papagei

Titel: Der unbeugsame Papagei Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrej Kurkow
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Augenblick hinaus.
    In dem ersten Brief erzählte Manjascha von ihrem schweren, an Tränen und Kränkungen reichen Leben in der sibirischen Evakuierung. Sie lebte dort mit den Kindern im Haus eines verbannten ukrainischen Kulaken. Sie schrieb, dass die Kulakenfamilie jeden Tag Kartoffeln aß, für sie, Manjascha, aber nur Kartoffelschalen abfielen, von denen sie den Kindern Suppe kochte. Niemand in diesem Dorf mochte sie, die Evakuierten. Man nannte sie sogar eigens ‚die Ausgegrabenen‘, um sie noch mehr zu kränken. Als Dobrynin den ersten Brief gelesen hatte, krampfte sich ihm das Herz zusammen. Und beim näheren Hinsehen auf das mit Tinte vollgeschriebene Blatt, bemerkte der Volkskontrolleur auch noch, dass manche Tintenbuchstaben gleichsam verschwammen und an diesen Stellen etwas wie getrocknete Tropfen hervortrat.
    ‚Tränen!‘, erkannte Dobrynin und biss die Zähne zusammen, dass sie wehtaten.
    Er machte sich an den zweiten Brief, und hier fiel ihm ein Stein vom Herzen. In ihrem zweiten Brief schrieb Manjascha, dass nach ihrer Beschwerde ein Kontrolloffizier ins Dorf angereist war, alles rasch durchschaut und befohlen hatte, die Kulakenfamilie, bei der Manjascha mit den Kindern lebte, weiter weg auf irgendwelche unbewohnten Flussinseln zu verbannen. Ihren ganzen Haushalt mitsamt dem Keller, der mit Kartoffeln und Eingemachtem gefüllt war, sowie die Ziege hatte er ihr, Manjascha, übergeben. Nun lebte sie mit den Kindern gut und satt, die Nachbarn hatten aufgehört, sie Ausgegrabene zu schimpfen. Nun kamen sie zu ihnen zum Tee und brachten den Kindern Süßigkeiten mit, sie hatten wohl einen schönen Schrecken bekommen!
    Zufrieden las Dobrynin den zweiten Brief, er hatte sich gänzlich beruhigt und freute sich sogar. Trotz allem liebte und schätzte ihn die Heimat ja und kümmerte sich um seine Familie. Das hieß, er musste noch mehr für die Heimat tun und sie noch stärker lieben.
    Genosse Twerin war noch nicht zurückgekehrt. Vor dem Fenster wurde es bereits dunkel.
    Da beschloss der Volkskontrolleur, selbst zu versuchen, seinen Freund und Genossen Woltschanow ausfindig zu machen. Um sich zu ermutigen und um die aufgewühlten Gedanken zu beruhigen, goss er sich noch einmal Wein aus der Kanne ins Glas, trank es aus und ging zur Tür.
    Draußen im Flur traf Dobrynin auf den Genossen Twerin, der gerade wiedergekommen war.
    „Gehst du?“, fragte Twerin.
    „Ja … ich wollte Woltschanow sehen …“
    „Genosse Soldat“, wandte Twerin sich da an den Rotar­misten mit der Kalaschnikow, der sein Büro bewachte. „Begleiten Sie Genosse Dobrynin zum Genossen Woltschanow, damit er sich nicht verläuft!“
    „Zu Befehl!“, brüllte der Soldat, und ein dumpfes Echo im Flur zerriss das herausgeschossene Wort in viele kleine Klangfetzen.
    „Ja, Pascha!“ Genosse Twerins Stimme hielt Dobrynin auf. „Bald ist der Krieg zu Ende! Es wurde gerade beschlossen, im April oder Mai nächsten Jahres zu siegen! Ruf mich morgen an!“
    „Gut“, versprach der Volkskontrolleur.
    Als Woltschanow Dobrynin in der Tür seines Büros er­blickte, strahlte er, sprang hinter seinem Tisch auf und lief ihm entgegen.
    Sie umarmten sich wie Freunde, die einander lange Jahre nicht gesehen hatten.
    „Hast du mein Paket bekommen?“, fragte der Unterleutnant sofort.
    „Ja, das Paket und auch den Brief … Genosse Woltschanow …“
    „Aber was sagst du denn da.“ Der Unterleutnant war einen Schritt zurückgetreten. „Was für ein Genosse bin ich denn für dich, ich bin doch dein Freund! Oder hast du vergessen, was wir damals vereinbart haben? Ich bin Timocha! Und du bist Pascha! Weißt du es jetzt wieder?“
    Und dann lachte Timofej Woltschanow los, als er merkte, dass Dobrynin seine gespielte Strenge ganz ernst genommen hatte.
    „Hast du Hunger?“, fragte der Unterleutnant.
    „Also … Tee habe ich schon mit Genosse Twerin getrun-ken.“
    Timofej nickte. „Das heißt, du hast nichts gegessen! Der Alte gibt nie jemandem was zu essen! Na, warte!“
    Woltschanow lief hinaus in den Flur, sagte etwas zu irgendwem und kam wieder zurück.
    „Sie machen sofort was! Und du setz dich schon, erzähl, was du gemacht hast, wen du gesehen hast!“
    Kaum begann er zu erzählen, da begriff der Volkskontrolleur, dass ihm die Zunge auf den Wein hin schwer geworden war. Er hatte Mühe, die Wörter auszusprechen, vor allem die langen. Aber zu seiner Freude entdeckte er, dass Timofej, selbst wenn Dobrynin nur halbe Worte aussprach, dennoch

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