Der unbeugsame Papagei
selbst: Die Papageien lebten ja bis zu 300 Jahre, allein die Menschen starben so schnell …
Vor dem vergitterten Fenster erklang Musik – offenbar hatte der Leiter des Gefängnisses befohlen, seine Lieblingsschallplatte mit der Aufnahme irgendeines Chores aufzu-legen.
„Wofür haben sie dich eingebuchtet?“, hatte Jurez eines Tages gefragt.
„Für ein Wort …“, hatte Mark gestanden.
„Für was für eines?“
„Kusma hat in der Vorstellung gepatzt, statt ‚das Werk wird verrichtet‘, hat er gesagt ‚das Werk wird vernichtet‘.“
„Ach ja, die Politik …“, seufzte Jurez da nur allzu ernst.
Die Gerichtsverhandlung, in der sie verurteilt wurden, war sehr kurz gewesen. Der Anwalt, schien es, hatte mehr den Papagei zu verteidigen versucht, als Mark, obwohl doch gerade der Papagei sie beide in diese Notlage gebracht hatte. Der Ankläger hatte allerdings dem Anwalt sowieso nicht zugehört. Er hatte gesagt, ein Subjekt habe das Verbrechen begangen, und wer dieses Subjekt sei, ein Mensch, ein Vogel oder ein Ziegenbock, sei unwichtig. Wichtig sei allein das Vorliegen dieses Verbrechens.
Kusma in seinem alten, viel Male geflickten Käfig hustete.
Mark erhob sich von seiner Pritsche, schob den Käfig mit Kusma so hin, dass er in dem einzigen Sonnenstrahl stand, der in die Zelle fiel, und kehrte auf seine Pritsche zurück.
Das Schloss an der Zellentür knackte, quietschend ging der unsichtbare äußere Riegel auf, und in der Öffnung erschien Jurez. Er war mager und spitznasig, und wenn auf seinem Gesicht ein schmallippiges Lächeln erschien, sah er vollends wie ein Halbwüchsiger aus.
„Grüß dich!“, sagte er und kam in die Zelle. „Da hat einer ein neues Gedicht geschrieben, der Papagei soll es lernen!“
„Hier sitzen also auch Dichter?“, staunte Mark, als er in Jurez’ Händen ein dünnes, zusammengerolltes Schulheft erblickte.
„Hier sind alle Dichter.“
Als er das Heft geöffnet hatte und einen ersten Blick hineinwarf, überflog Mark den ersten Vers und verstand rein gar nichts: Die Buchstaben schienen Russisch zu sein, doch sie ergaben keinen Sinn. Mark dachte daran, wie nach dem Krieg Urluchow ihm Essen geschickt hatte und irgendein Kind auf einer Packung mit Hirse auch einen ähnlichen Unsinn geschrieben hatte.
„Was ist das denn?“, fragte Mark.
„Ein Gedicht. Sieht man das etwa nicht?“
Mark las das Geschriebene noch mal und zuckte die Achseln.
„Na du bist ja eine Pfeife!“, sagte Jurez kopfschüttelnd. „Schnallst du etwa nicht, wie wir reden?“
„Nein“, gestand Mark. „Das schnalle ich nicht …“
„Gut, ich erklär’s dir“, sagte Jurez. „Kimarka ist die Pritsche, Taratschki sind Zigaretten, fratzen ist essen … Klar?“
Mark verzog das Gesicht, las das Geschriebene noch einmal und nahm die schwere Brille von der Nase. Er seufzte schwer.
„Gefällt dir das Gedicht etwa nicht?“ In Jurez’ dünner Stimme schwang ein drohender Unterton mit.
Mark seufzte schwer.
„Ich glaube, das wird ein bisschen schwierig für den Papagei … er hat so etwas noch nie gelernt.“
„Na, er war ja auch noch nie im Knast, aber wo er nun drin ist, soll er es lernen, sonst kriegt er nämlich Ärger mit mir!“
„Ist schon gut …“, stimmte Mark zu.
Jurez ging hinaus und schloss die Eisentür hinter sich ab.
Mark betrachtete das Gedichtheft, und sein Blick hinter den dicken Brillengläsern wurde trüb.
„Verscharmiert sich Wanja in die Musche …“, las Mark laut den Anfang eines Verses.
Er klappte das Heft zu und nahm die Brille ab.
Der Sonnenstrahl war unterdessen von dem Käfig auf dem Steinboden fortgeglitten und begann mit seinem frühlingshaften Gelb ein wenig die glatten Bretter der Pritsche zu erklimmen. Kusma hustete wieder. Mark löste sich von den Gaunerversen, hob den Käfig hoch und stellte ihn aufs Neue in den Sonnenstrahl.
„So, Kusma“, sagte er traurig. „Siehst du, was du lernen musst? Fratzen, das heißt fressen, essen … Ja, essen, das würde ich jetzt auch gern … Hm, Kusma, möchtest du ein bisschen Hirse fratzen? Ach, ach …!“ Mark seufzte. „ Na, komm, wir lernen, hör zu: ‚Verscharmiert sich Wanja in die Musche, genft ein Rippart, kauft ein Klafott… Oh! Schau, Kusma, hier ist ein russisches Wort – kauft! Sie werden doch wohl nichts kaufen? Also, komm, von vorne: ‚Verscharmiert sich Wanja in die Musche, genft ein Rippart …‘
Nach einer Weile, als die Sonne schon die weiße verputzte Wand hoch kroch, ging
Weitere Kostenlose Bücher