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Der unbeugsame Papagei

Der unbeugsame Papagei

Titel: Der unbeugsame Papagei Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrej Kurkow
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zweiten Mal die linke. Danach kamen dann die Füße dran …“
    „So ist es richtig!“, rief jemand aus der Menge der Siedler. „Die Hände abhacken, und fertig!“
    „Ja, man muss ihm die rechte Hand abhacken!“, schrie eine von den Frauen. „Habt ihr denn den Dieb gefunden?“
    Der Buchhalter antwortete nicht.
    „Ja, was beschließen wir jetzt? Stimmen wir ab?“, fragte er. Die Versammlung lärmte zustimmend. „Wer dafür ist, dem Dieb die rechte Hand abzuhacken, der soll die Hand heben!“, sagte der Buchhalter.
    So viele Hände hoben sich da, dass dem Buchhalter klar wurde – andere Vorschläge würde es nicht geben.
    „Aber was macht ihr denn“, rief der Engel bestürzt und lehnte sich ganz weit vor. „Wie kann man ihm denn die Hand abhacken?“
    „Jetzt warte doch mal“, unterbrach ihn der Brigadier. „Sagt lieber, habt ihr diesen Dieb schon gefunden, oder suchen wir jetzt gemeinsam?“
    „Wir haben ihn“, antwortete der Buchhalter.
    Alle verstummten angespannt.
    „Glaschkas Pjotr war’s.“
    „O Gott!“, rief eine Frau und fiel ohnmächtig um.
    „Das ist Glaschka“, flüsterte jemand neben dem Engel.
    „Wo ist er denn?“, fragte ein anderer laut.
    „Da ist er ja, schaut!“ Die Siedler stießen einen kleingewachsenen Mann nach vorn, der, als er in der Mitte des Kreises stand, den Blick zu Boden senkte und reglos stehen blieb.
    „Wozu hast du denn das Buch gestohlen?“, fragte ihn der Buchhalter streng.
    „Ich wollte lesen“, antwortete Pjotr, ohne den Kopf zu heben.
    „Was, kannst du etwa lesen?“, rief jemand aus der Menge.
    „Ja“, murmelte der Dieb.
    „Auch schreiben?“
    „Das auch …“
    „Aber er lügt doch!“, sagte eine kleine runde Frau. „Er wollte sich das Buch wohl zum Zigarettendrehen zerrupfen …“
    Während die Siedler durcheinander riefen, ging der Engel zur Lehrerin.
    „Katja“, sagte er. „Sie dürfen ihm doch nicht die Hand abhacken! Vielleicht wollte er dieses Buch wirklich nur lesen?“
    „Das werden wir jetzt überprüfen“, sagte Katja absichtlich laut, damit alle es hörten. „Wenn er lesen und schreiben kann und ohne Fehler an die Tafel schreibt, dann vergebe ich ihm!“
    „Ah, das ist fein!“ Der Buchhalter wurde lebhaft und fand die Ermittlung eine interessante und lehrreiche Beschäftigung. „Kommt, wir gehen alle!“
    Sie führten Pjotr in die Klasse, Katja zündete die Petroleumlämpchen an. Dann gab sie dem Dieb ein Stück Kreide.
    „Also, schreib“, sagte sie.
    Pjotr schien sich dafür bereit zu machen. Er hob die rechte Hand mit der Kreide, die er zwischen den Fingern zusammen presste, stellte sich seitlich hin und blickte von unten herauf die Lehrerin an, als wartete er, was man ihm zu schreiben aufgeben würde.
    „Wir sind keine Sklaven, keine Sklaven sind wir“, sprach Katja langsam und deutlich.
    Pjotr stand reglos da und hatte den Blick wieder ge-senkt.
    „Was machst du denn!“, drängte ihn der Buchhalter.
    Pjotr setzte die Kreide an die Tafel und drückte, wie es aussah, so stark mit ihr, dass die Kreide in seiner Hand zerbröckelte.
    „Er hat gelogen!“, seufzte jemand.
    Pjotr hatte allen den Rücken gekehrt, als er sich mit dem Gesicht zur Tafel wandte. Er stand da und schwieg. Nur seine schmalen Schultern zuckten.
    „Und jetzt?“, fragte der Buchhalter alle.
    „Na was schon“, dröhnte der Bass irgendeines Bauern. „Abhacken, und fertig! Er ist ja doch ein Dieb, völlig klar!“
    Hier fühlte der Buchhalter ein gewisses Mitleid mit diesem kleinen und, wie man sah, zu gar nichts tauglichen Männlein, das selbst für einen Diebstahl nicht Besseres gefunden hatte, als irgendein Buch, und das sich von der Anschuldigung nicht befreien konnte. Der Buchhalter blickte auf seine bebenden Schultern, den schwächlichen Rücken. Dabei wurde ihm unfroh zumute. Wäre es jetzt irgendein kräftiger Bursche von den Bauarbeitern oder den Rotarmisten gewesen, und hätte dieser Bursche so etwas wie einen Räucherschinken gestohlen, dann täte es einem nicht leid, beide Hände abzuhacken! Aber der hier war von hinten gesehen das reinste Kind!
    „Brüder!“, ertönte da die Stimme des Engels. „Was tun wir denn da, wenn wir eine Hand abhacken! Vielleicht wird er ja nie mehr stehlen und er wird ehrlicher werden, aber eine neue Hand wächst ihm nicht mehr …“
    „Ja“, unterstützte der Buchhalter jetzt eifrig den Engel. „Vielleicht bestrafen wir ihn ein wenig anders, damit er uns nicht so Leid tut? Vergeben tun wir

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