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Der unbeugsame Papagei

Der unbeugsame Papagei

Titel: Der unbeugsame Papagei Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrej Kurkow
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heulte sie dann auf und schlug die Hände vors Gesicht.
    „Nicht doch, Genossen!“, warnte einer der beiden in Lederjacke. „In unserem Land gibt es keine Waisen! Wir nehmen sie zu uns, schicken sie in die Suworow-Lehranstalt …“
    „Aber da sind doch zwei Mädels und ein Bub!“, nuschelte ein alter Nachbar.
    „Die Mädchen in die Kulibinski-Anstalt, den Buben in die Suworow!“, zog einer der beiden in Lederjacke einen Schlussstrich unter das Gespräch.
    „Oh! Hier ist dieses Ding!“, rief plötzlich der Rotarmist, der in den Trümmern gegraben hatte.
    Alle drehten sich zu ihm um.
    Der Rotarmist hielt einen schwarzen Stein von der Größe eines Menschenkopfes in den Händen.
    „Schwer ist er!“, sagte der Rotarmist, während er zu der Menge kam, und gab ihn jemandem zu halten, um das Gesagte zu beweisen.
    „… Haben Sie vielleicht zufällig heutige Zeitungen dabei?“, fragte plötzlich der Träumer und sah auf Banow. „Genosse! Genosse? Hm?“
    Banow schlug die Augen auf. In seinem Kopf rauschte es, denn schläft man etwa anständig im Sitzen?
    „Zeitungen von den letzten Tagen haben Sie nicht zufällig?“, fragte der Träumer.
    „Nein, nein, die habe ich nicht mitgebracht …“, stammelte der Schuldirektor.
    „Vielleicht wissen Sie auch so Neuigkeiten? Was gibt es denn dort oben?“
    Banow strengte sein Gedächtnis an. Das einzige, woran er sich gut erinnerte, war der Erlass über die Umbenennung von Genosse Kalinin in Genosse Twerin.
    „Der Genosse Kalinin wurde in Genosse Twerin umbenannt …“, erklärte Banow und versuchte sich an weitere Neuigkeiten zu erinnern.
    „Umbenannt?“ Der Kremlträumer interessierte sich für diese Neuigkeit. „Wissen Sie zufällig, mein Lieber, ob man nur ihn umbenannt hat, oder noch irgendeinen anderen?“
    „Anscheinend nur ihn …“, antwortete Banow.
    „Hm … vielleicht haben Sie etwas gehört … Vielleicht hat man mich auch umbenannt?“
    Banow straffte sich.
    „Aber nein!“, sagte er voller Hochachtung. „Nein, wie könnte man denn …“
    „Na, vielleicht wurde das nur nicht bekanntgemacht …“, fuhr der Kremlträumer fort. „Ich bekomme da nämlich neuer­dings Briefe, anscheinend an mich, aber auf dem Kuvert steht ‚Moskau, Kreml, für Ekwa-Pyris‘ … das klingt doch schon sehr unrussisch, aber die Briefe sind eindeutig an mich …“
    Banow wusste nicht, was er antworten sollte.
    „Vielleicht ist das ein Versehen?“, fragte Klara.
    „Vielleicht“, sagte der Träumer, doch seine Miene drückte nun äußerste Besorgnis aus. „Da kommen sehr viele solcher Briefe! Auf einen, sehen Sie, habe ich geantwortet und irgendwie automatisch ebenfalls so unterschrieben – Ekwa-Pyris …“
    „Vielleicht wird so Ihr Name auf ausländisch übersetzt?“, schlug Klara vor.
    „Aha …“, nickte der Kremlträumer. „Ja …, wahrscheinlich ist das eine Übersetzung …“
    „Sie haben so einen schönen Anzug“, sagte Klara, die be­schlossen hatte, den Träumer von bedrückenden Gedanken abzulenken.
    „Gefällt er Ihnen?“, freute er sich. „Die Weste ist einfach großartig, Sie werden es nicht glauben: elf Taschen. Solche Westen gab es nicht mal vor der Revolution!“
    ‚Wieso „nicht mal“?‘, überlegte Banow, sagte aber nichts.
    Plötzlich ertönte ein Pfiff.
    „Ein Vogel?“ Der Träumer hob den Zeigefinger in die Höhe.
    Banow horchte aufmerksam.
    Wieder ertönte ein Pfiff, lauter bereits, und im nächsten Augenblick hörte man hinter der Laubhütte jemanden leise vor sich hinsingen.
    Banow sprang auf die Füße und sah Klara so angespannt an, dass sie sich ebenfalls erhob.
    „Rennen wir!“, flüsterte der Schuldirektor und lief voraus, dorthin, wo sie sich von Karpowitsch getrennt hatten, auf die andere Seite des Hügels.
    Hinter der Hügelkuppe fiel Banow auf die Erde.
    Klara setzte sich atemlos neben ihn.
    Als sie Atem geschöpft hatten, krochen sie zum höchsten Punkt des Hügels und spähten von dort aus.
    Vor dem Träumer stand ein Soldat mit einem dreistöckigen Henkelmann. Er erzählte dem Alten etwas, und der lächelte zur Antwort. Dann, nachdem er sich umgeblickt hatte, drückte der Soldat dem Träumer die Hand und klopfte ihm irgendwie freundschaftlich auf die Schulter.
    Fassungslos sah Klara Banow an.
    „Wie kann man denn so was tun?“, fragte sie.
    Banow zuckte die Schultern.
    Die ersten Regentropfen fielen zur Erde.
    Der Kremlträumer eilte mit seinem dreistöckigen Henkelmann in den Händen in seine

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