Der unersättliche Spinnenmann
Besuch?«
»Nein. Sie ist Mikrobiologin. Sie hat eine Fortbildung über Mineralwasser gemacht. Sechs Monate lang hat sie in Italien Quellen und Abfüllanlagen besichtigt.«
»Ich glaube, in Mailand gibt es gar keine Quellen.«
»Sie war dort zu einem Kurs über Spezialfilter.«
»Und jetzt arbeitet sie in einer Pizzeria?«
»Ja.«
»Versteh ich nicht.«
»Die italienische Firma zahlte zweitausend Dollar im Monat für ihre Arbeit, aber die kubanische Firma kassierte alles ein und zahlte ihr nur elf Dollar monatlich. In der Pizzeria verdient sie mehr.«
»Wie lange ist sie mit dir zusammen?«
»Hab ich doch schon gesagt: drei oder vier Jahre.«
»Sie muss eine glückliche Frau sein.«
»Warum?«
»Ich wäre auch gern die Frau eines Künstlers, eines Dichters.«
»Ist sehr schwierig.«
»Meinst du?«
»Sicher.«
»Wieso denn?«
»Ein Künstler ist immer kurz davor, wahnsinnig zu werden.«
Sie schaut mich an und schweigt, macht eine zweifelnde Geste.
»Ist es schwierig für deine Frau?«
»Sie hat eine stoische Ruhe.«
»Aber sie versteht dich?«
»Hm … manchmal ja … keine Ahnung.«
»Bist du nicht sicher?«
»Da gibt’s nichts zu verstehen. Außerdem bin ich mir nie über irgendwas sicher. Ich bin dauernd am Zweifeln. Muss für sie ziemlich beschissen sein.«
»Du bist ein Krieger.«
»Ein Künstler. Krieger bringen immer Beute aus ihren Schlachten mit. Politiker zum Beispiel sind Krieger. Wir Künstler machen da nicht mit.«
Sie holt ein Foto aus ihrer Handtasche. Sie, die beiden Töchter und der Ehemann. Sie sitzen um einen Tisch herum. Anscheinend ist es Weihnachten, und sie sind in einem Restaurant. Ihr Mann scheint ein sympathischer, ruhiger Typ zu sein, vielleicht fünfundvierzig Jahre alt oder ein bisschen älter. Die Mädchen könnten fünf und sechs Jahre alt sein oder jünger. Alle haben bunte Papierhüte auf und halten Papptröten in den Händen. Auf dem Tisch sieht man Reste von Speisen und Getränken, Blumen, Luftschlangen, einen Leuchter mit drei Kerzen und eine große Zahl »2000«, aus vier Pappstücken geschnitten und mit Goldpapier beklebt. Sie schauen starr in die Kamera, ernst, als langweilten sie sich. Oder als wären sie müde. Yesika hier vor mir ist eine intelligente, sinnliche Frau. Ein bisschen wie eine schlaue Katze. Auf dem Foto wirkt sie sehr grau. Die »2000« auf dem Tisch scheint mir blödsinnig. Ich sehe mir alle Einzelheiten des Fotos an. Eine nach der anderen. Sie sagt:
»Das Foto ist genau in dem Moment entstanden, als das neue Jahrtausend begann.«
»Ist das dein Mann?«
»Ja. Er wollte nicht, dass ich dich allein besuche.«
»Eifersüchtig?«
»Wir haben ein paar Mal deswegen gestritten, und er hat mir verboten herzukommen.«
»Traut er dir nicht?«
»Er mag deine Bücher nicht.«
»Ah.«
»Er sagt, sie seien unanständig.«
»Wann fährst du wieder?«
»Morgen.«
»Du hast ‘ne Weile gebraucht, um dich zu entschließen.«
»Ich … ich konnte einfach nicht wieder abreisen, ohne dich kennen zu lernen. Mein Leben ist ein Roman. Man hat mich von der Universität verwiesen, weil ich unmoralisch war, dann hab ich auf einem Fahrradparkplatz gearbeitet, hab mich in Varadero rumgetrieben, mit … mit den Touristen, du weißt schon. Ich hab auf dem Schwarzmarkt gehandelt, mit allem Möglichen, war ein paar Mal im Knast. Dann hab ich einen Deutschen geheiratet und bin abgehauen, und … uff, wenn ich dir das alles erzähle … das ist so viel … ach, ich weiß nicht. Ich weiß überhaupt nichts mehr.«
»Was weißt du nicht?«
»Ich bin irgendwie verwirrt. Ich weiß nicht, ob ich es richtig oder falsch mache.«
»Ich weiß auch nicht, ob ich es richtig oder falsch mache, Yesika. Niemand weiß das. Und ich bin auch verwirrt.«
Sie schließt die Augen und hebt die Augenbrauen ganz hoch.
»Du hättest auf dem Land bleiben sollen, bei Papa und Mama. Dann hättest du deine Ruhe.«
Sie öffnet die Augen, schaut mich an und lacht. Spöttisch. Ein Anflug von Zynismus und Perversion huscht über ihr Gesicht. Schnell wischt sie ihn weg und nimmt wieder jenen ruhigen, sanften, gelassenen Ausdruck an.
»Kommst du oft nach Kuba?«
»Nein. Alle zwei, drei Jahre. Die Mädchen sprechen nicht Spanisch, und das ist ein Problem.«
»Wann kommst du das nächste Mal wieder?«
»Keine Ahnung. Uff …«
Wieder schließt sie die Augen, atmet tief ein und stößt heftig die Luft aus. Ich sage:
»Du hast ein intensives Leben gelebt.«
»Kann man wohl sagen.
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