Der unglueckliche Moerder - Roman - Ausgezeichnet mit dem Skandinavischen Krimipreis
konnte man das nicht so sehen? Spielte es eine Rolle? Bedeutete das alles etwas, wenn es um den eigenen Sohn ging?
Eine Antwort fand er nicht. Nicht im Entferntesten.
Egal, wie man die Sache auch ansah, so war Erich Van Veeteren nur ein Stein in einem Spiel gewesen, mit dem er nichts
zu tun gehabt hatte. Was für ein sinnloser Tod, dachte Reinhart. Ein ganz und gar vergebliches Opfer ... der Einzige, der etwas von seinem Tod gehabt haben konnte, war Keller, der vermutlich den Preis für sein düsteres Wissen erhöht hatte, als Clausen sich ein weiteres Leben aufs Gewissen geladen hatte.
Einfach schrecklich, dachte Reinhart zum fünfzigsten Mal an diesem düsteren Tag. Der unterirdische Regisseur hat wieder mal zugeschlagen.
»Was habt ihr jetzt vor?«, fragte Van Veeteren.
»Wir lassen Keller drüben suchen«, sagte Reinhart. »Natürlich. Vielleicht müssen wir jemanden rüberschicken ... aber es ist ein großes Land. Und für eine Weile hat er genug Geld.«
Van Veeteren setzte sich auf und schaute aus dem Fenster.
»Es schneit ziemlich stark«, sagte er. »Ich danke dir auf jeden Fall, ihr habt getan, was ihr konntet. Wir könnten vielleicht in Kontakt bleiben, ich möchte auf jeden Fall wissen, wie es weitergeht.«
»Ist doch klar«, sagte Reinhart.
Als er den Kommissar verließ, hätte er zum ersten Mal seit zwanzig Jahren weinen mögen.
35
Den Mittwochabend und den halben Donnerstag verbrachte er in einer alten Jugendstilvilla im Deijkstraatviertel. Krantze hatte aus einem Nachlass eine komplette Bibliothek gekauft; ungefähr viereinhalbtausend Bände mussten durchgesehen, beurteilt und in Kartons verpackt werden. Wie üblich musste er drei Kategorien im Auge behalten: die Bücher, die schwer verkäuflich und von zweifelhaftem Wert waren (die wurden zum Kilopreis veräußert), die, die im Antiquariat einen guten Eindruck machten und eventuell irgendwann in der Zukunft Käufer finden konnten (nicht mehr als zwei- oder dreihundert,
wenn er an den nötigen Stellplatz dachte), und die, die er gern in seinem eigenen Bücherregal sehen wollte (höchstens fünf, mit der Zeit hatte er gelernt, moralische Fragen in klare Zahlen umzuwandeln).
Es war keine unangenehme Beschäftigung, in diesem alten Bürgerhaus zu sitzen (die Familie hatte mehrere Generationen von Juristen und Richtern beim Obersten Gericht hervorgebracht, wenn er die Genealogie richtig gelesen hatte) und in alten Büchern zu blättern. Er ließ sich die nötige Zeit, und Krantzes ererbte Gicht hinderte diesen jetzt an aller Arbeit, die nicht im Stillsitzen verrichtet werden konnte. Oder im Liegen. Natürlich hatte sich Krantze zuerst davon überzeugt, dass der Nachlass keine wissenschaftlichen Schriften aus dem 17. oder frühen 18. Jahrhundert enthielt, dieses schmale Feld war im Herbst seines Lebens zu seiner wirklichen (und einzigen, hatte Van Veeteren leider feststellen müssen) Leidenschaft geworden.
Nach Feierabend am Mittwoch verzehrte er eine düstere, einsame Mahlzeit, sah sich im Fernsehen einen alten De-Sica-Film an und las einige Stunden. Zum ersten Mal seit Erichs Tod spürte er, dass er sich auf andere Dinge konzentrieren konnte; er wusste nicht, ob das mit seinem letzten Gespräch mit Reinhart zusammenhing. Vielleicht, vielleicht nicht. Und wenn doch, warum? Vor dem Einschlafen ging er noch einmal den düsteren Verlauf der Ereignisse durch, der zum Mord an seinem Sohn geführt hatte. Und dem diese Krankenschwester dasselbe Schicksal verdankte.
Er versuchte sich den Mörder vorzustellen. Überlegte sich, dass der nicht die eigentliche Triebkraft gewesen war. Er war offenbar in eine Situation hineingerutscht, in ein immer komplizierteres und teuflisches Dilemma, das er mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln zu lösen versucht hatte. Und deshalb hatte er mit einer Art verzweifelter, pervertierter Logik gemordet und gemordet und gemordet.
Und war am Ende selber zum Opfer geworden.
Nein, Reinhart hatte schon Recht. Es war keine schöne Geschichte.
In dieser Nacht träumte er zwei Dinge.
Zuerst träumte er von einem Besuch bei Erich, der im Gefängnis saß. Es war kein sonderlich ereignisreicher Traum; er saß einfach in Erichs Zelle auf einem Stuhl, Erich lag auf dem Bett. Ein Wärter brachte ein Tablett. Sie tranken Kaffee und aßen eine Art weichen Kuchen, ohne miteinander ein Wort zu wechseln; es war eigentlich eher eine Erinnerung als ein Traum. Ein Erinnerungsbild, das vielleicht nicht mehr zu erzählen hatte,
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