Der unglueckliche Moerder - Roman - Ausgezeichnet mit dem Skandinavischen Krimipreis
zu finden. Wenn er nur nicht die Besinnung verlor.
Es war gut zu wissen, dass er sie noch hatte, dass er dieses Wichtige besaß. Die Kraft.
Trotzdem hätte er gern mit ihr gesprochen.
Warum, hätte er sie gern gefragt.
Was hättest du davon, mich für fünf Jahre ins Gefängnis zu stecken?
Ich habe deinen Sohn getötet, ich bedaure es aus tiefstem Herzen, aber es war ein Unfall, und was wäre gewonnen, wenn ich mich stellte?
Er fragte sich, was sie wohl antworten würde. Hatte sie ihm denn wirklich einen Vorwurf zu machen? Es war doch ein Unglück gewesen, und ein Unglück hat keinen Täter. Es hat überhaupt keine Akteure, sondern nur Faktoren und Objekte, die sich jeglicher Kontrolle entziehen.
Später an diesem Abend spielte er dann mit dem Gedanken, der Familie einen anonymen Brief zu schicken. Oder einfach anzurufen und seinen Standpunkt darzulegen, aber er wusste, dass das zu riskant sein würde, und deshalb gab er diese Idee wieder auf.
Er verzichtete auch darauf, zu Wim Felders Beerdigung, die am Samstag, zehn Tage nach dem Unfall, in der voll besetzten Keymerskirche stattfand, einen Kranz zu schicken.
Aus demselben Grund: dem Risiko.
Neben Angehörigen und Freunden nahmen an der Zeremonie viele Schüler und Lehrer des Wegergymnasiums teil, dazu die Vertreter der verschiedenen Organisationen der Verkehrsopfer. Das konnte er am Sonntag im Neuwe Blatt ausführlich lesen, aber das war dann auch der letzte große Bericht über den Fall.
Zu seiner Überraschung stellte er am Montag fest, dass er sich leer fühlte.
Als habe er etwas verloren.
Wie damals, als ich Marianne verloren habe, dachte er etwas später mit derselben Überraschung; es war ein seltsamer Vergleich, aber irgendeinen Vergleich musste er doch ziehen. Zehn Tage lang hatte dieses entsetzliche Ereignis sein Leben dominiert. War durch jede Pore und in jeden Winkel seines Bewusstseins gesickert. Obwohl er seine Panik relativ schnell in den Griff bekommen hatte, war sie doch die ganze Zeit vorhanden gewesen. Unter der Oberfläche, bereit zum Ausbruch. Seine Gedanken waren fast in jeder Sekunde um diese höllische Autofahrt gekreist, um den leichten Knall und das Rucken des Lenkrades; um den Regen, den leblosen Jungenkörper und den glitschigen Straßengraben ... Tag und Nacht, und als es nun vorkam, dass er zeitweise nicht daran dachte, hatte er auf irgendeine Weise das Gefühl, dass ihm etwas fehlte.
Eine Art Leere, wie gesagt.
Wie nach einer elf Jahre langen, kinderlosen Ehe ... doch, da gab es Parallelen.
Ich muss ein sehr einsamer Mensch sein, dachte er während dieser Tage. Seit Marianne mich verlassen hat, hat eigentlich nichts etwas für mich bedeutet. Rein gar nichts. Mir passieren Dinge, aber ich handele nicht. Ich existiere, aber ich lebe nicht.
Warum habe ich mir keine neue Frau gesucht? Warum habe ich mir nicht einmal diese Frage gestellt? Und jetzt bin ich plötzlich ein anderer.
Wer? Wer bin ich?
Dass solche Gedanken auftauchten, weil er einen Jungen totgefahren hatte, war natürlich schon eigentümlich genug, aber etwas untersagte ihm, zu tief an der Sache zu rühren. Er beschloss, alles gelassen hinzunehmen und die Sache anzugehen, neues Terrain zu betreten, und ehe er sich’s versah — noch ehe er sich die Zeit zum Nachdenken und Bereuen gegeben hatte —, hatte er eine Frau zum Essen eingeladen. Er hatte sie in der Kantine kennen gelernt, sie hatte sich an seinen Tisch gesetzt,
wie üblich hatte es kaum freie Plätze gegeben. Er wusste nicht, ob er sie je zuvor gesehen hatte.
Vermutlich nicht.
Aber sie hatte angenommen.
Sie hieß Vera Miller. Sie war fröhlich und rothaarig, und in der Nacht zwischen Samstag und Sonntag — etwa über drei Wochen, nachdem er zum ersten Mal in seinem Leben einen Menschen getötet hatte —, liebte er zum ersten Mal seit fast vier Jahren eine Frau.
Am nächsten Vormittag wiederholten sie das, und danach erzählte sie, dass sie verheiratet war. Sie sprachen eine Weile darüber, und er sah, dass ihr das wesentlich mehr zu schaffen machte als ihm.
Am Montag kam der Brief:
Einige Zeit ist verstrichen, seit Sie den Jungen ermordet haben. Ich habe darauf gewartet, dass Ihr Gewissen erwacht, aber jetzt, weiß ich, dass Sie ein schwacher Mensch sind, der nicht wagt, für seine Taten einzustehen.
Ich verfüge über unmissverständliche Informationen, die Sie ins Gefängnis bringen werden, sowie ich die Polizei davon informiere. Mein Schweigen kostet zehntausend
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