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Der Ungnädige

Der Ungnädige

Titel: Der Ungnädige Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jane Casey
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Ihr größter Fehler war es zu denken. Sie sind nicht zum Denken hier. «
    Ich machte den Mund auf, um etwas einzuwenden, und ließ ihn wieder zuklappen. War eh zwecklos. Derwent nickte kurz und heftig, als wäre er zufrieden damit, dass er mich in die Schranken gewiesen hatte. Ich hätte gern gewusst, ob er wirklich so sauer war oder ob er seinen kleinen Auftritt absichtlich inszenierte.
    » Prima. Gehen wir also. « Er warf einen Blick auf die Uhr. » Wir haben noch einen Tatort auf der Liste, aber vorher will ich mit der Schwester sprechen. Sie wartet schon auf uns. Sie will uns nicht zu spät dahaben, damit wir ihre süßen Kinderchen nicht stören. «
    » Wo wohnt sie? «
    » In Chislehurst. « Das war ein ganzes Stück östlich von Brixton, und Derwent sprach laut aus, was ich nur dachte. » Bei dem Verkehr werden wir wohl eine Weile dorthin brauchen. «
    Trübsinnig folgte ich ihm zum Auto. » Halten Sie sich im Hintergrund und machen Sie einen hübschen Eindruck « , hatte er gesagt.
    Tja, das versprach ein langer Nachmittag zu werden.

2
    Eigentlich konnte ich mir kaum vorstellen, dass dieser Tag für irgendjemanden noch miserabler ausfallen könnte als für mich, aber Barry Palmers Schwester Vera Gordon hatte die allerbesten Aussichten darauf. Sie war klein und drahtig und wirkte deutlich älter als 38, obwohl man nach ihrem momentanen Aussehen natürlich fairerweise nicht urteilen durfte. Ihre Haut war vom vielen Weinen rau und gerötet, und die Haare hingen ihr strähnig ins Gesicht. Die Arme um den Körper geschlungen, saß sie da und zitterte in einem fort– ein Becher Tee stand unangetastet auf dem Sofatisch vor ihr. Das Wohnzimmer war zwar klein, aber im Gegensatz zur Wohnung ihres Bruders in tadellosem Zustand. Obwohl die Möbel ziemlich abgenutzt aussahen, waren sie geschmackvoll ausgewählt. In einer Ecke standen ein paar Spielzeugkisten, allesamt ordentlich sortiert. Das Zimmer wirkte familiär, einladend und gemütlich. Auf dem Fensterbrett waren Familienfotos aufgereiht, die ich mir einen Moment lang genauer ansah.
    » Er ist nicht mit dabei « , sagte sie mit heiserer und strapazierter Stimme. » Als er ins Gefängnis musste, habe ich sein Bild weggeräumt. Damit die Leute nicht nach ihm fragen. «
    Derwent, der neben Vera saß, beugte sich ein Stück vor. » Mrs. Gordon, mir ist natürlich klar, dass Sie über das, was Ihrem Bruder zugestoßen sind, sehr bestürzt sind. «
    » Dass er…so gefunden wurde. Und dann das Haus. Meine Mutter wäre entsetzt, wenn sie das gesehen hätte. « Ihre Augen füllten sich mit Tränen, und sie suchte im Ärmel ihrer grauen Wolljacke nach dem Taschentuch. » Warum mussten sie ihm das nur antun? Warum haben sie ihn so gequält? «
    » Das versuchen wir gerade herauszufinden. «
    Plötzlich ertönte irgendwo hinter dem Haus eine Kinderstimme, und Vera wandte sich in die Richtung, aus der sie kam, damit sie besser hören konnte, was los war. Die Stimme verebbte wieder, und Vera drehte sich mit tränenerfülltem Lächeln wieder zu uns. » Der Kleine. Andauernd hat er Streit mit seiner großen Schwester. «
    » Wie viele Kinder haben Sie denn? « Natürlich kannte Derwent die Antwort, aber es war eine gute Idee, sie von ihrer Familie erzählen zu lassen. Schließlich sollte sie sich beruhigen und nicht in Hysterie verfallen. Ihr Vertrauen war wichtig.
    » Nur die zwei. «
    » Junge und Mädchen also. Mit wem ist es denn leichter? «
    » Das lässt sich gar nicht so leicht sagen. Beide haben so ihre Eigenheiten. «
    » Ganz bestimmt. Kann ich mir lebhaft vorstellen. « Derwent bedachte sie mit einem Lächeln, das ein bisschen zu breit war, um aufrichtig zu sein, aber es verfehlte seine Wirkung nicht.
    » Mrs. Gordon, ich ahne, wie schwer Ihnen das fällt, aber könnten Sie uns ein bisschen von Barry erzählen? Wir wissen bisher nur, dass er wegen Missbrauchs an zwei minderjährigen Mädchen verurteilt wurde « , sagte Derwent.
    » Das war doch alles totaler Unsinn. « Sie straffte sich ein wenig, auf den Wangenknochen leuchteten zwei rote Flecken. » Diese Gören waren doch so was von verlogen. Die wollten sich nur wichtigmachen. «
    » Was für ein Mensch war Barry denn so? Verheiratet war er nicht, oder? Hatte er mal eine Freundin? «
    » Nein. Aber das hat nichts zu sagen. Er war halt schüchtern, das war alles. Ein ziemlicher Einzelgänger. Vielleicht– na ja, ein bisschen kauzig oder so, aber doch nicht gefährlich. In seiner Jugend hat er sich überhaupt

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