Der Ungnädige
was eigentlich seltsam war, wenn man bedachte, dass ich in ebendiesem Haus schon Schlimmeres– wesentlich Schlimmeres– gesehen hatte. Vielleicht war es ja nur deshalb, weil das Maß an Widerwärtigkeiten für heute längst voll war. Ich warf einen flüchtigen Blick in das andere Schlafzimmer, auf die zerwühlten Decken und Laken, die Gardinen, die von der Vorhangstange herunterhingen, die auf einem Stuhl in der Ecke aufgeschichteten Kleidungsstücke. Es roch nach ungewaschener Haut und abgestandener Luft. Die Matratze hing über das Bett hinaus, als hätte sie jemand angehoben, um zu sehen, was darunter lag– und plötzlich ging mir ein Bild durch den Kopf, wie die Mörder durch das Haus hetzen, nachdem sie sich gewaschen haben, und mit klammen Händen wer weiß wonach suchen, während Palmer unten in seinem erbärmlichen Wohnzimmer sein Leben aushaucht.
Ich stieg die Treppe wieder hinunter, wo ich Derwent ins Gespräch mit Dr. Hanshaw vertieft sah. In der Annahme, dass sie nicht gestört werden wollten, schlüpfte ich aus der Haustür und streifte mit einiger Erleichterung meinen Papieranzug ab. Der Geruch des Hauses hing mir in den Haaren und auf der Haut, was ich deutlich wahrnahm, als ich die Straße überquerte und auf das Grüppchen der Anwohner zuging, die immer noch mit verschränkten Armen dastanden. Sie bildeten einen weitgehend repräsentativen Querschnitt der bunt gemischten Bevölkerung der Gegend. Brixton war ein echter Schmelztiegel, und diese Straße bildete da keine Ausnahme. Die Gruppe schien mich in stiller Übereinkunft mit Argwohn zu betrachten, doch ich stellte mich ungerührt mit einem Lächeln vor.
» Wie Sie sicher wissen, ermitteln wir in einem verdächtigen Todesfall in dem Haus da drüben. Hat jemand von Ihnen in den letzten Tagen etwas Ungewöhnliches bemerkt? Haben Sie Leute gesehen, die hier nicht hergehören? Haben Sie etwas Außergewöhnliches gehört? «
Eine füllige schwarze Frau schüttelte den Kopf. » Tut mir leid, ich glaube nicht, dass wir da weiterhelfen können. Von uns hat keiner was gesehen, oder, Brian? «
Brian war klein und schmächtig und hatte eine ledrige Gesichtshaut. In der Faust verborgen, zwischen Daumen und Zeigefinger, hielt er eine stinkende Zigarette, von der er einen tiefen Zug nahm, bevor er antwortete. » Glaub ich auch nicht, nein. «
Ich ließ meinen Blick über die Gesichter der kleinen Gruppe wandern und sah überall dieselbe Miene. Hier würde niemand aus der Reihe tanzen, jedenfalls nicht vor den anderen. » Gut. Ihre Namen und Adressen, bitte. «
Es war, als würde man das Licht im Keller einschalten und die Ratten schutzsuchend auseinanderstieben sehen. Das Grüppchen löste sich auf. Brian murmelte etwas davon, zur Arbeit zu müssen. Ich hob die Stimme.
» Das ist keine Bitte, meine Damen und Herren. Namen und Adressen. Und zwar sofort. «
Es gibt einen ganz bestimmten Ton, den man mit der Zeit im Polizeidienst auf der Straße lernt. Respekteinflößend, ohne einzuschüchtern– das wirkt selbst bei den widerspenstigsten Zeitgenossen. Brav kehrten die Nachbarn um und diktierten mir ihre Angaben. Wir hatten ohnehin vor, überall bei den Anwohnern zu klingeln, aber die besonders Neugierigen– diejenigen, die stundenlang auf der Straße standen und gafften, obwohl eigentlich gar nichts passierte–, waren diejenigen, mit denen ich auf jeden Fall sprechen wollte. Das waren die, die bestimmt etwas bemerkt hatten. Und hinter verschlossenen Türen konnten sie vielleicht doch nicht widerstehen, uns ihre Beobachtungen zu verraten.
Als ich mit dem letzten potenziellen Zeugen fertig war, drehte ich mich um und sah DI Derwent hinter mir stehen. Er wirkte nicht begeistert.
» Sie hatten wohl die Nase voll da drin, oder wie sehe ich das? «
» Ich trage nur ein paar Informationen zusammen. «
» Hab ich gesagt, dass Sie das tun sollen? «
» Nein, aber… «
» Nein. « Er kam näher und sagte mit leicht geröteten Wangen in schneidendem Ton: » Lassen Sie mich mal eins klarstellen, ja? Ich kann Eigeninitiative nicht leiden. Ich kann Leute nicht leiden, die zu viel selbst denken. Ich kann es nicht ausstehen, wenn ich nach einer Nachwuchsbeamtin suchen muss, nur weil die der Meinung ist, sich schon verdrücken zu können. «
» Ich wollte Ihr Gespräch mit Dr. Hanshaw nicht unterbrechen. «
» Gut. Und da konnten Sie nicht am Tatort warten, bis ich fertig bin? «
» Ich dachte, es könnte nicht schaden, die Leute zu befragen. «
» Schön.
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