Der Ungnädige
nicht für Mädels interessiert, und die haben ihn auch gar nicht beachtet. Meistens hat er in seiner eigenen Welt gelebt. Kino fand er toll– am liebsten wär er jeden Tag hingegangen. Meistens hat er Videos angeschaut, ganz für sich allein. «
» Hat er jemals gearbeitet? «
» Nein, nur als Jugendlicher hatte er mal so ’nen Samstagsjob im Laden um die Ecke. Er kam nicht gut mit anderen Leuten aus. Wollte sich nichts sagen lassen. Ich weiß nicht, was aus ihm geworden wäre, wenn man ihn richtig gefördert hätte. Aber unser Vater hat ihn immer nur schlechtgemacht. Deshalb fehlte ihm der Mut, auch mal was Neues auszuprobieren. Er ist nur über die Runden gekommen, weil er nie zu Hause ausgezogen ist und Mum ihn immer unterstützt hat. Graham, mein Mann, meinte immer, er sollte irgendwas machen, damit er beschäftigt ist. Regale einräumen oder an der Tankstelle jobben– irgendwas Einfaches. Er meinte, so ein Job würde ihm auch mehr Selbstachtung verschaffen und ihn unabhängiger machen. Er konnte nie verstehen, dass sich Barry einfach so mit Nichtstun zufriedengegeben hat. Aber es war wahrscheinlich leichter für ihn, zu Hause zu bleiben. Weniger riskant. Barry hatte schreckliche Angst davor zu versagen, deshalb hat er es sich abgewöhnt, Sachen auszuprobieren. Und dann…diese Mädchen… «
Sie brach ab und ein heftiges Schluchzen erfasste sie. Derwent warf mir einen schnellen Blick zu. Tun Sie was. Anscheinend hatte er jetzt doch noch eine Verwendung für mich gefunden.
Ich rückte von meinem Stuhl zu ihr aufs Sofa und legte ihr die Hand auf den Arm. » Mrs. Gordon, ich weiß, wie schwer das für Sie sein muss. Wir würden uns mit diesem Gespräch gern noch Zeit lassen, aber Zeit ist leider genau das, was wir nicht haben. Wir wollen die Leute finden, die Ihrem Bruder das angetan haben. Und Sie doch auch, oder? «
Sie nickte und wischte sich hastig übers Gesicht. » Ja. Ich will Ihnen ja auch helfen, aber ich muss immer wieder daran denken, was mit ihm passiert ist. « Sie schaute auf und sah mich aus ihren rotgeweinten Augen an. » Sagen Sie mir die Wahrheit. Was haben die mit ihm gemacht? Ich weiß, dass sie ihn geschlagen haben, aber was haben sie noch gemacht? «
Der Gedanke an sein Ende schnürte mir die Kehle zu– die Vorstellung, jemandem, der ihn gekannt und geliebt hatte, sein Leiden beschreiben zu müssen, war unerträglich. Mein Gesicht verriet ihr offenbar genug, denn sie brach wieder in Tränen aus.
Ich lehnte mich zurück und wagte es nicht, Derwent anzusehen. Nach ein paar Minuten schnäuzte sich Vera und warf die Haare zurück.
» Vielleicht ist es ja besser, wenn ich die Einzelheiten nicht kenne. « Als keiner von uns etwas sagte, nickte sie. » Verstehe, Sie halten das also auch für besser. Dann frag ich auch nicht noch mal nach. Aber ich möchte auf jeden Fall, dass Sie wissen, wie mein Bruder wirklich war. «
Wir hörten ihr zu, während sie aus ihrer Kindheit erzählte, von kleineren Siegen und Rückschlägen, wie die beiden zusammenhielten gegen einen lieblosen Vater und von einer hingebungsvollen Mutter, die ihren Sohn trotz allem nie fallen ließ.
» Mein Vater– eigentlich dachte ich immer, dass wir ihm beide egal waren. Aber das stimmte gar nicht. An dem Tag, als Barry verurteilt wurde, ist Dad zusammengebrochen. Etwa drei Wochen später ist er gestorben– als hätten wir nicht schon genug Probleme am Hals gehabt. « Ihre Stimme klang bitter. Zwei Fußpaare kamen die Treppe hochgerannt, und Vera wartete ab, bis ihre Kinder außer Hörweite waren, ehe sie weitersprach. » Der Arzt meinte, es sei das Herz gewesen. Das war die größte Ironie dabei– der erste und einzige Beweis für uns, dass er überhaupt eins hatte. Aber sein Kummer galt nicht Barry, sondern sich selbst. Er konnte es nicht ertragen, dass sein Sohn ins Gefängnis musste. Barry war schon immer eine einzige Enttäuschung für Dad gewesen, denn er hatte sich einen Sohn gewünscht, der so war wie er: Trinker, Fußballfan, Kneipengänger– doch dazu taugte Barry nicht. «
» Mrs. Gordon, Sie sagten, die Mädchen wollten sich mit ihrer Klage nur wichtigmachen. Wie haben Sie das gemeint? «
Die Gehässigkeit in ihrer Stimme überraschte mich. » Das waren doch dreckige kleine Biester, alle beide. Haben sich zusammengetan und sich eine Geschichte über Barry zurechtfantasiert. Die fanden das wahrscheinlich witzig, wenn Sie mich fragen. Es wurde viel über ihn gespottet in dieser Gegend, die Leute hielten
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