Der Ungnädige
für eine Weile weg ist– dass er seinen Job unter sehr unglücklichen Umständen aufgeben musste und dass ich mir um ihn Sorgen mache, aber hoffe, dass er bald wieder der Alte sein würde. In der Familie war es bekannt, aber meinen Halbgeschwistern stehe ich nicht besonders nahe. Sie sind alle viel jünger als ich. Ich bezweifle, dass es sie überhaupt interessiert hätte. «
» Glauben Sie, einer Ihrer Nachbarn hat etwas davon mitbekommen? Hat man Sie schief angesehen, oder haben andere ihre Kinder bewusst von Ihren Kindern ferngehalten– solche Sachen? «
Sie lächelte schwach. » Wir leben hier in London, DI Derwent. Niemand kennt hier irgendwen. Die Jungs gehen auf eine Privatschule, die von der öffentlichen Grundschule mehrere Kilometer entfernt ist. Zu den Kindern aus der Nachbarschaft haben sie deshalb eigentlich kaum Kontakt. Nein, mir ist niemand aufgefallen, der sich seltsam verhalten hätte, aber besonders freundlich würde ich es auch nicht nennen. Die Leute hier sind eben einfach so. Ich glaube nicht, dass man uns wegen Ivan ausgegrenzt hat. «
» Ist Ihnen Ivan in letzter Zeit besonders abwesend vorgekommen? Konnte er gut schlafen, wissen Sie das? Hatten Sie das Gefühl, dass er um seine Sicherheit besorgt war? «
» Es war alles wie immer. « Sie deutete auf die Tür. » Er hat sich immerzu Sorgen um seine Sicherheit gemacht, aber er war mehr wegen seiner Firma beunruhigt als wegen sich. «
» Dann hat er also Ihres Wissens keine Warnung bekommen. «
» Nichts. « Sie stieß einen langen, zitternden Seufzer aus. » Und ich hatte gedacht, alles würde endlich wieder normal werden. Aber jetzt wird es nie wieder normal sein. Die ersten Reporter haben schon angerufen und wollten etwas über Ivan und seine Vergangenheit wissen. Alle werden es erfahren. Wir werden wieder umziehen müssen. Und ich weiß nicht, was ich den Jungs sagen soll. «
Dieses Mal weinte sie nicht. Ich hegte den leisen Verdacht, dass ihr Leben ohne ihren Ehemann einfacher für sie sein würde. Vielleicht würde Claudia das ja auch erkennen. Sie stand auf und klopfte die Rückseite ihrer Jeans sauber. Das konnte man sicher so deuten, dass sie alle Spuren dieses Bürohauses von sich abwischen wollte. Ich hoffte, dass sie es schaffen würde wegzugehen, ohne zurückzuschauen. Sie hatte es verdient, die Fehler ihres Mannes hinter sich zu lassen. Und wenn sie sich ohne Bitterkeit an ihn erinnern konnte– nun, dann umso besser für sie, auch wenn es über meinen Horizont hinausging. Ich hatte schon an Fällen von Kinderpornografie gearbeitet und dabei einiges gesehen. Ich brauchte mir nicht auszumalen, was für Bilder Ivan Tremlett heruntergeladen hatte. Ich brauchte mir auch nicht vorzustellen, welche Leute auf diese Bilder abfuhren. Nicht ohne Grund war es ein Verbrechen. Es lag durchaus eine gewisse Befriedigung darin zu wissen, wie gründlich er bestraft worden war.
Verdammt. Dieser Gedanke lag erschreckend nahe bei dem, was der Mörder offenbar empfunden hatte. Dieser Tag war wohl zu lang für mich, dachte ich, als ich mich von Claudia Tremlett verabschiedete und zusah, wie Derwent die Tür hinter uns abschloss. Es war an der Zeit, nach Hause zu fahren.
Aber der Herr Inspector hatte selbstverständlich andere Vorstellungen. » Nun machen Sie schon, Kerrigan. Der Verkehr in Richtung City wird ätzend sein. Wir müssen uns ranhalten. «
Ich nahm seinen Schritt auf und folgte ihm. Mir taten die Füße weh, mein Nacken schmerzte, und ich konnte kaum noch einen klaren Gedanken fassen, wagte es aber nicht, mich auszuklinken.
» Wohin geht’s? «
» Zurück ins Revier. Ich will den Chef noch vor Dienstschluss informieren. Da können Sie gleich mitkommen. Jemand muss noch die Akten von Palmer und Tremlett durchlesen, und das werde ganz bestimmt nicht ich sein. «
Die Akten waren vermutlich randvoll, und der Inhalt ging einem garantiert an die Nieren. Es war wirklich nicht fair, dass Derwent mir das so einfach anhängte. Aber das war nicht der eigentliche Grund, weshalb ich die Stufen nur langsam und widerwillig hinabging, als wären meine Schuhe mit Blei besohlt. So unangenehm es auch war, den Tag mit Derwent zu verbringen, und so schrecklich die Dinge waren, die ich gesehen hatte, ich hätte liebend gern noch einmal zwölf Stunden so verbracht, statt auch nur eine Minute länger im Büro zu sitzen. Dort warteten noch unerledigte Angelegenheiten auf mich. Angelegenheiten, über die ich nicht einmal nachdenken wollte.
Aber
Weitere Kostenlose Bücher