Der Ungnädige
dachte darüber nach. Noch so ein Trick aus der Therapie, vermutete ich. Sie analysierte erst einmal den Gedanken, den er aufgeworfen hatte, statt einfach emotional darauf zu reagieren. » Vielleicht wollte ich mich nicht mit ihr streiten. Oder vielleicht hielt sie ihn ja auch für unschuldig und wusste, dass ich genauso dachte, sodass es überflüssig war, darüber zu reden. «
» Die erste Variante klingt wahrscheinlicher, finden Sie nicht auch? Wenn Sie entschlossen waren, Ihre Ehe zu erhalten, war das Beste, was Ihre Mutter dafür tun konnte, ihn nicht mit den Kindern allein zu lassen. «
Ihre blauen Augen füllten sich mit Tränen, doch ihr Blick wich nicht von Derwents Gesicht. » Sicher können Sie das so interpretieren. Aber so habe ich es nicht gesehen. «
» Ist Ihnen nie der Gedanke gekommen, er könnte vielleicht doch schuldig sein? Nicht mal für einen Moment? «
Wieder antwortete sie verblüffend ehrlich: » Ich habe mir nicht gestattet, darüber nachzudenken, dass er schuldig sein könnte. Ich wollte es nicht, und da er sagte, er sei es nicht gewesen, habe ich nie etwas anderes in Betracht gezogen. Ich habe meinen Mann sehr geliebt. Ich meine, er hat mir drei wundervolle Söhne geschenkt. Sie sind das Wichtigste in meinem Leben. Ich wollte nicht, dass unsere Ehe zerbricht, weil ich nicht wollte, dass sie so kämpfen müssen, wie ich es als Kind musste. Das Beste, was ich für sie tun konnte, war, ihnen Stabilität zu geben. Dass Mama und Papa da waren, so oft wir das ermöglichen konnten. Wir haben uns nie gestritten, sind nie laut geworden. Alles war immer sehr zivilisiert. « Sie biss sich auf die Lippe. » Vielleicht zu zivilisiert. Vielleicht hätten wir uns unseren Konflikten stärker stellen sollen. Dann könnte ich Ihnen jetzt erzählen, dass wir uns gestritten haben, dass ich zuerst wollte, dass er geht, er mich aber von seiner Unschuld überzeugt hat. Dann würden Sie mir jetzt wahrscheinlich glauben. «
» Es spielt keine Rolle, was wir glauben « , sagte ich behutsam. Ich war noch nie in dieser Situation gewesen. Ich konnte sie nicht verurteilen für das, was sie getan hatte, aber ich war heilfroh, dass ihre Mutter die Rolle des inoffiziellen Leibwächters ihrer Söhne übernommen hatte. » Für uns ist vor allem relevant, dass offenbar jemand anders ihn für schuldig gehalten hat und ihn deswegen bestraft hat. Klar ist, dass wir herausfinden müssen, wer ihn umgebracht hat und warum. Und im Moment gehen wir davon aus, dass es jemand war, der ihn als verurteilten Kinderschänder identifiziert hat. «
» Können Sie sich irgendeinen anderen Grund vorstellen, weshalb jemand Ihrem Mann Schaden zufügen wollte? « , fragte Derwent.
» Nein. «
» Denken Sie, dass er Geheimnisse vor Ihnen hatte? «
» Das kann ich mir nicht vorstellen. Er hat entweder gearbeitet oder er war zu Hause. Ohne mich ist er eigentlich nicht aus dem Haus gegangen, außer hier ins Büro. Und dass er hier gearbeitet hat, weiß ich genau, denn ich habe mich um seine Buchhaltung gekümmert. Er hat ein Journal geführt, in dem er im Viertelstundentakt seinen Arbeitstag dokumentierte. Da war er ganz sorgfältig, und die Rechnungen stimmten immer damit überein. Seine Kunden hätten ihn bestimmt nicht für Leistungen bezahlt, die er nicht erbracht hat, also bin ich davon ausgegangen, dass er tatsächlich hier war, wenn er es sagte. « Sie musste unsere überraschten Gesichter wahrgenommen haben, denn sie hob das Kinn. » Ja, ich habe das überprüft. Ich wollte sichergehen, dass er das Geschäft zum Laufen bringt, in Dads Interesse. Ich wollte ihm vertrauen, konnte das aber nicht richtig nach dem, was passiert war. Bis jetzt kann ich das irgendwie nicht. Mein Therapeut hat mit mir daran gearbeitet, anderen zu vertrauen, und ich gebe mir wirklich Mühe. Aber es fällt mir schwer. «
Es war absolut nicht überraschend, dass Claudia Tremlett es schwer fand, anderen zu vertrauen. Doch der Umstand, dass sie glaubte, das sei ihr Problem und sie brauche deshalb eine Therapie, bestätigte mir, dass sich hinter ihrer Haltung und ihrer Schönheit große Unsicherheit verbarg.
» Wusste sonst noch jemand von Ivans Verurteilung? « , fragte Derwent. » Ich nehme an, Ihre Freunde und Verwandten waren informiert? «
» Wir haben es nicht gerade an die große Glocke gehängt « , sagte Claudia spitz, lenkte aber gleich ein. » Die meisten sind davon ausgegangen, dass er einen Nervenzusammenbruch hatte. Ich habe nur gesagt, dass er
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